Das Mädchen hat ihr flauschiges Einhorn mitgenommen. In seiner rosa Jacke sitzt es auf den Schultern des Vaters, schwenkt die Fahne. «Papa, es passiert nichts. Es kommen keine Panzer», sagt die Fünfjährige an der Moskauer Prachtmeile Neuer Arbat.
Hunderte von Schaulustigen stehen hier, um die Militärtechnik, die gerade erst über den Roten Platz gerollt war, zu sehen. Sie jubeln, sie schreien «Vorwärts, Russland». Und sie sind enttäuscht. «So wenig los dieses Jahr», sagt der Vater des Mädchens in Rosa. «Dabei wollte ich meiner Tochter zeigen, wie gross und mächtig unser Land ist.» Seine Frau fügt hinzu: «Unseren Siegeswillen müssen wir den Kleinen mit der Muttermilch einflössen.»
Russland feiert seinen «heiligsten» Feiertag, den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland 1945. Es tut es zum zweiten Mal inmitten von Kriegshandlungen, die der eigene Präsident angeordnet hatte. Unverhohlen zieht Wladimir Putin einen Bogen von der Vergangenheit zum Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, der in Russland euphemistisch «militärische Spezialoperation» genannt wird.
Putins zynische Verkehrung: «Gegen unsere Heimat wurde ein Krieg entfesselt. Das Ziel der Gegner Russlands ist der Zerfall unseres Landes», behauptet er auf der Bühne auf dem Roten Platz, wo er die Parade zum «Tag des Sieges» abnimmt, umringt von betagten und Orden behangenen Veteranen und den Staats- und Regierungschefs aus den Ex-Sowjetrepubliken Belarus, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Armenien.
Einmal mehr spricht er davon, dass der «kriminelle und tötende» Westen das «ukrainische Volk als Geisel» genommen habe. Über den Roten Platz marschieren derweil auch mehr als 500 Teilnehmer der sogenannten «militärischen Spezialoperation» in der Ukraine. «Es gibt im Moment keine wichtigere Aufgabe als die Kampfhandlungen. Das Land ist geeint in grenzenloser Liebe, um unsere Helden zu unterstützen», sagt Putin.
Am Neuen Arbat, wo manche Cafés die Rede auf grossen Bildschirmen übertragen, brandet Applaus auf. Die Parade fällt dieses Jahr dreimal kleiner aus als der Militärauflauf in den vergangenen Jahren. Ihre Unzufriedenheit über die «viel zu bescheidene Militärtechnik», wie manche beklagen, rechtfertigen die Menschen sogleich mit «wichtigeren Aufgaben als über den Roten Platz zu rollen». So sagt es Anna, die sich in die Flagge der sogenannten «Donezker Volksrepublik» gehüllt hat.
Vor acht Monaten war die 48-Jährige aus der Ostukraine nach Moskau geflohen, zur Tochter, die seit 2018 in der russischen Hauptstadt lebt. «Ich weiss, was Krieg bedeutet. Wenn ich die Raketenwerfer hier sehe, zieht sich alles in mir zusammen. Aber ich spüre auch den Stolz, die Liebe zu Russland, weil es mich beschützt. Die Ukraine sollte aufwachen, man sollte dort alle töten. Oh, jetzt klinge ich wie eine Faschistin. Ich will einfach, dass Wladimir Putin die Sowjetunion zurückbringt, damit wir alle friedlich miteinander leben können.» Für Anna und all die anderen, die hier jubeln, ist klar: «Russland ist gut, der Westen ist böse.»
Für den Moskauer Alexej sind solche Sätze unerträglich. Seit Jahren flieht er am 9. Mai aus der Stadt, um diesem «Irrsinn, bei dem so viele auf den Knochen ihrer Vorfahren tanzen», wie er es nennt, zu entkommen. Alexej sagt: «Wir sollten lieber leise unsere gefallenen Verwandten betrauern und nicht herumbrüllen, wie grossartig wir sind.»
Die 38-jährige Swetlana will derweil wenig über die Ukraine hören. «So viel Negatives da, warum sollte ich mich damit verstimmen?», fragt sie. Ihre vierjährige Tochter hüpft um sie herum, die Achtjährige steht an der metallenen Strassensperre, um die Militärfahrzeuge zu sehen. «Es ist wichtig, dass sie wissen, wie mächtig unser Land ist», sagt Swetlana.
Es ist ein Satz, der oft fällt an diesem Tag. Väter sagen ihn, Mütter, sie schauen ihre Kinder dabei an und wiederholen ihn: «Nicht wahr, Jaroslaw? Es ist wichtig, dass wir den Sieg feiern. Nicht wahr, Weronika? Es ist wichtig, dass wir die Grosstaten unserer Armee kennen.» Warum? Die Väter und Mütter bleiben stumm. «Weil es wichtig ist. Wir sind ein grossartiges Land», sagt Swetlana trotzig.
Viele Familien flanieren im Stadtzentrum, manche Kinder tragen olivgrüne Uniformen, halten Spielzeug-Gewehre im Arm. Die Eltern finden das «süss». «Da wächst ein Kämpfer heran», sagt so mancher. Die Menschen schwenken russische, manche auch sowjetische Fahnen. Am Ende der 45 Minuten langen Parade ziehen sie in die Parks der Stadt, es gibt Essen aus der Feldküche, knapp 20 Feuerwerke am Abend.
Der Präsident, der sich im Kampf für eine «zivilisierte Welt» sieht und in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht, rühmt sich stets als Garant der Sicherheit. Doch längst ist die Gewalt, die Russland gesät hat, aufs eigene Land übergeschwappt. Öllager brennen, Kämpfer, die zurückkommen, ermorden Verwandte, gegen glühende Kriegsbefürworter werden Bombenanschläge verübt, plötzlich fliegen Drohnen über dem Kreml.
Das Echo des Krieges erschüttert das Land. Auf dem Neuen Arbat sagen die Menschen: «Ach, lassen Sie uns doch mit diesen schlechten Nachrichten. Heute ist ein Feiertag, wir wollen feiern.» (aargauerzeitung.ch)
Ich meine in der Aussage eine kleine logische Schwäche entdeckt zu haben, bin aber nicht ganz sicher.
Genau!
Nächstes Jahr werden Bilder aufgehängt.