Bis vor kurzem schien allen klar: Die politischen Zeichen stehen auf rechts. In der Schweiz war die FDP in den kantonalen Wahlen auf dem Vormarsch. Auf der internationalen Bühne errangen die britischen Konservativen einen Überraschungssieg. Überall waren die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Auch für die kommenden nationalen Wahlen in der Schweiz gab es unter den Polit-Gurus bisher einzig eine Frage: Wie kräftig wird der Rechtsrutsch hierzulande ausfallen?
Derzeit kippt die öffentliche Meinung. Wie schon 2011 steht die Frage im Raum: Hat die Linke doch recht? Damals war es Charles Moore, der konservative Kolumnist im «Daily Telegraph» und Thatcher-Biograph, der diese Frage mit Ja beantwortete und damit weltweit für Aufsehen sorgte.
Frank Schirrmacher, der inzwischen verstorbene Feuilleton-Chef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» – lange ein sicherer Wert der aufgeklärten Konservativen –, stimmte Moore zu und kam ebenfalls zum Schluss: Das Bürgertum hat seine Werte verraten und die bürgerlichen Parteien sind zu willfährigen Instrumenten eines verantwortungslosen Neoliberalismus verkommen.
Auch heute entfremdet sich das anständige Bürgertum zunehmend von den bürgerlichen Parteien. Figuren wie Donald Trump lösen mit ihrem grenzenlosen Narzissmus, mit ihrem offenen Rassismus und Sexismus Abscheu aus. Selbst wenn dies amerikanischer Gigantismus sein mag, bleiben Spuren davon auch bei uns hängen.
Die ernsthafte politische Auseinandersetzung verkommt zum Gaga-Wahlkampf. Selbst SVP-Grössen wie der Zürcher Parteipräsident Alfred Heer verurteilen das Schmierentheater um Stoffhund Willy und den damit verbundenen Schunkelsong als Sauglattismus.
Der Höhenflug der FDP scheint ebenfalls beendet. Die Wirtschaftspartei wird vom Frankenschock eingeholt. Nachdem dieser Schock anfänglich überraschend gut verdaut schien, tauchen nun fast täglich Meldungen über Auslagerungen von Schweizer Arbeitsplätzen und Entlassungen auf. Die FDP hat darauf keine überzeugenden Antworten. Georg Lutz, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne, erklärt daher in einem Interiew mit «Cash»: «Ich sehe keinen Aufschwung der FDP, sondern allenfalls eine leichte Erholung.»
Mit dem rücksichtslosen Vorgehen von Schäuble & Co. haben sich auch in der Europa-Frage die Gewichte verschoben. Der «eiserne Wolfgang» dürfte sich gerade bei konservativen Anti-Europäern grosser Beliebtheit erfreuen, zumindest klammheimlich. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass die SVP die Anti-EU-Rhetorik zurückfährt und voll auf das angebliche Asylchaos setzt.
Umgekehrt hat die brutale Disziplinierung von Alexis Tsipras und seiner Syriza auch liberale Bürgerliche nachdenklich gemacht, moralisch und ökonomisch. Nicht nur Linke kritisieren die deutsche Austeritätspolitik, auch die Mehrheit der angelsächsischen Ökonomen und führenden Zeitungen wie die «New York Times» und die «Financial Times». Selbst der IWF kommt inzwischen zum Schluss, dass Griechenland ohne Schuldenerlass nicht auf die Füsse kommen kann und dass die lauthals geforderten Strukturreformen letztlich zweitrangig sind.
Schliesslich breitet sich weltweit der Eindruck aus, dass die Politik zunehmend von Unternehmen und Superreichen gekauft wird. In den USA sind die Summen, die für einen erfolgreichen Wahlkampf nötig sind, inzwischen in schwindelerregende Höhen geklettert. Dubiose Gestalten wie die Koch-Brüder erhalten einen viel zu grossen Einfluss. Auch bei uns wächst der Unmut darüber, dass Milliardäre wie Christoph Blocher Zeitungen und Plakatwände mit SVP-Propaganda zupflastern.
All dies führt zu unbeabsichtigten Gegenreaktionen. Im Vereinigten Königreich hat Jeremy Corbyn sehr gute Chancen, nächster Führer der Labour Party zu werden. Er ist der Prototyp eines nicht käuflichen Politikers, der seit Jahrzehnten die gleichen Grundsätze vertritt und deswegen stets belächelt wurde.
Ebenso erwischt der Erfolg von Bernie Sanders in den Umfragen alle Polit-Gurus auf dem falschen Fuss. Der demokratische Senator aus dem Bundesstaat Vermont und Herausforderer von Hillary Clinton überrascht mit hervorragenden Umfragewerten und grosser Beliebtheit gerade bei den jungen Wählern.
Gaga-Wahlkampf, deutsche EU-Dominanz und gekaufte Politik – all das spielt derzeit den Linken in die Hände. Der prognostizierte Rechtsrutsch im kommenden Herbst ist daher alles andere als sicher.