Er habe dem türkischen Geheimdienst 59 Nachrichten, unter anderem via Whatsapp, übermittelt und zudem mehrmals die Polizei angerufen. Der Kurde soll in der Schweiz lebende Landsleute und mutmassliche Sympathisanten der kurdischen Arbeiterpartei PKK beim autokratischen Regime von Präsidenten Recep Tayyip Erdogan denunziert haben. Das wirft die Bundesanwaltschaft einem im Kanton Bern wohnhaften türkischen Staatsbürger vor. Im vergangenen April hat sie ihn wegen politischen Nachrichtendienstes angeklagt. Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 durch Teile der Armee ging Erdogan rigoros gegen Regimegegner vor. Politiker warnten, sein langer Arm reiche auch in die Schweiz.
Ob überhaupt und wann ein Prozess wegen politischen Nachrichtendienstes stattfinden wird, ist offen. Im vergangenen Juli legte die Strafkammer des Bundesstrafgerichts das Verfahren gegen den Kurden auf Eis. Die Bundesanwaltschaft erhob Beschwerde mit Verweis auf das Beschleunigungsgebot. Doch Anfang Dezember bestätigte die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichtes die Sistierung. Auch das Verfahren gegen zwei andere Türken, die Anfang 2017 an der Universität Zürich regierungskritische Landsleute bespitzelt haben sollen, ist blockiert – weil die Bundesanwaltschaft nicht weiss, wo sich die Beschuldigten derzeit befinden.
Beim Verfahren gegen den Kurden geht es um die Frage, ob sein Mobiltelefon ausgewertet werden darf oder nicht. Der Mann arbeitete in einer Pizzeria in Biel. Sein ehemaliger Chef fand heraus, dass er als Spion agieren könnte. Am Abend des 7. Mai 2019 soll er sich zusammen mit fünf weiteren Kurden, alle PKK-Anhänger, den mutmasslichen Verräter auf unzimperliche Art vorgeknöpft haben. Gegen vier von ihnen hat die Staatsanwaltschaft beim Regionalgericht Berner Jura-Seeland am 24. Dezember 2021 Anklage eingereicht wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung, Nötigung und einfacher Körperverletzung. Eine in den Vorfall involvierte Person befindet sich auf der Flucht, eine andere konnte nicht identifiziert werden.
Die mutmasslichen Täter drangsalierten ihr Opfer gemäss der Anklageschrift mit Schlägen und Fusstritten. Sie hielten es länger als sechs Stunden lang fest – die «Sonntags-Zeitung» sprach von «Folterkeller» – und sperrten es zweimal etwa währen zehn Minuten barfuss im Tiefkühlraum der Pizzeria ein. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, sie hätten ihr Opfer gezwungen, an einem zuvor bereitgestellten Tisch mit Stühlen Platz zu nehmen und Mobiltelefon, Portemonnaie sowie Schlüssel abzugeben. Die Angeklagten fanden auf dem Handy inkriminierende Chats und führten ihr Verhör über die Spitzeltätigkeit durch. Bei der Befragung gaben sie zu Protokoll, er habe das Handy ohne Probleme ausgehändigt. Es steht Aussage gegen Aussage.
Am 17. Mai 2019 zeigte einer der Beschuldigten den im Keller festgehaltenen Kurden wegen politischen Nachrichtendienstes an. Gleichentags erstattete dieser Anzeige gegen seine Peiniger – und zeigte sich mit der Auswertung seines Mobiltelefons einverstanden. Die Bundesanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt, der mutmassliche Spion habe dies in «vollem Wissen um die eingeleiteten Abklärungen» getan. Die Beschwerdekammer des Strafgerichts entgegnet jetzt, er sei bei der Einvernahme vom 18. Mai als Auskunftsperson und nicht als Beschuldigter vernommen worden – und bestätigt die Sistierung. Es hält fest, zunächst müsse das Regionalgericht klären, ob das Mobiltelefon als Beweismittel verwertbar sei oder nicht, weil es ihm möglicherweise mit Gewalt und Drohung abgenommen wurde. Zudem werde sichergestellt, dass sich die Urteile in den verschiedenen Verfahren nicht widersprächen. Rechtswidrig erhobene Beweismittel sind nicht verwertbar – es sei denn, sie sind zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich.
In den letzten 15 Jahren wurden in der Schweiz nur 4 Personen wegen politischen Nachrichtendienstes verurteilt. Das hat auch damit zu tun, dass die Spitzel oft als Diplomaten getarnt sind und diplomatische Immunität geniessen. Dabei ist unser Land «in verschiedener Hinsicht stark von Spionage» betroffen, wie der Nachrichtendienst des Bundes in einem Lagebericht festhält. So gehen ausländische Geheimdienste auch in der Schweiz immer wieder gegen ihre eigenen Landsleute vor. Ins Visier nehmen sie vor allem Regimekritiker, Mitglieder der Opposition oder Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten. Sie werden überwacht, bedroht und eingeschüchtert. Die angeheuerten Spitzel handeln laut dem Nachrichtendienst aus «Überzeugung, Furcht oder Eigeninteresse» und werden zum Beispiel mit Geld oder medizinischen Leistungen geködert. Oft schleusen Staaten ihre Agenten auf der Asylschiene in die Schweiz ein.
In Bezug auf die Türkei teilt eine Sprecherin des Aussendepartements mit, die Schweiz sei besorgt über die Menschenrechtslage und rufe den Staat regelmässig dazu auf, die politischen Rechte und die freie Meinungsäusserung zu respektieren. Sorgen bereitet der Schweiz auch «die teilweise politische Wendung, die einige Gerichtsurteile nehmen». Sie erinnert die Türkei an die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Justiz zu garantieren. Derweil ist nach dem Putschversuch die Zahl der Asylgesuche von türkischen Staatsangehörigen permanent gestiegen. Bis Ende November letzten Jahres baten mehr als 4000 Personen um Asyl. Noch mehr Gesuche stammen derzeit nur von Afghanen.