55'000 russische Soldaten seien im Krieg in der Ukraine gefallen. Das sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag an die russische Bevölkerung gerichtet – versehen mit dem Aufruf, gegen die Mobilmachung ihres Präsidenten zu protestieren.
Unabhängig überprüfen lässt sich diese Zahl nicht. Doch: Dass nun weitere 300'000 russische Männer in den Krieg gegen die Ukraine ziehen sollen, kommt bei einem Teil der russischen Bevölkerung gar nicht gut an. Nicht wenige protestieren. Andere versuchen verzweifelt, der Rekrutierung zu entgehen. Und verlassen das Land. Eine Übersicht.
>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker
Die russische Offensive in der Ukraine stockt bekanntlich seit längerem. Mehr noch: In den vergangenen Wochen konnten die ukrainischen Streitkräfte gar russisch besetztes Territorium zurückerobern, insbesondere in der Region um Charkiw im Osten des Landes.
Für Wladimir Putin aber kein Grund, den als «Spezialoperation» titulierten Einmarsch im Nachbarland für gescheitert zu erklären. Putin reagierte mit zwei taktischen Zügen: Einerseits erklärte der russische Präsident, dass in den besetzten Regionen Referenden abgehalten werden.
Diese beginnen heute Freitag. Was es damit auf sich hat und was Putin damit mutmasslich bezwecken möchte, liest du hier:
Andererseits kündigte Putin eine Teilmobilmachung an. 300'000 Reservisten mit Kampferfahrung sollen in die Armee eingezogen werden und die ausgedünnten Truppen an der Front unterstützen.
Zustimmung, Gleichgültigkeit, aber auch Ablehnung und Angst: Die Reaktionen in der russischen Bevölkerung divergieren, wie beispielsweise SRF-Korrespondent Christoph Wanner erklärt.
Insbesondere in jenem Teil der Bevölkerung, der ohnehin kriegskritisch eingestellt ist, sorgt Putins Ankündigung für Reaktionen. So kam es in mehr als 35 russischen Städten zu Protesten gegen die Teilmobilmachung, dabei wurden rund 1300 Personen von den russischen Behörden festgenommen.
Ein anderer Teil der kritischen Bevölkerung entscheidet sich nicht für den Protest, sondern die Flucht: Die Berichte über Russinnen und Russen, die ihr Land verlassen wollen, häuften sich in den vergangenen Stunden.
Die Beweggründe dieser Menschen scheinen klar: Sie können einen Einsatz im Krieg nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren und fürchten um ihr eigenes Leben. Die britische BBC hat mit einem Mann gesprochen, der gerade dabei war, Russland zu verlassen. Man stehe vor der Wahl, sagt er. «Entweder gehst du in den Krieg und tötest unschuldige Menschen oder du gehst ins Gefängnis. Ich sollte mein Leben besser im Ausland verbringen.»
“There is a choice: you go & kill innocent people or you go to jail. I’d better lead my life abroad.” We talk to one man who’s decided to leave Russia because of the military call-up. Our latest report for @BBCNews Producer @BBCWillVernon Cameras @AntonChicherov @LizaVereykina pic.twitter.com/CdPtt2MXga
— Steve Rosenberg (@BBCSteveR) September 22, 2022
Ausreisewillige Russen versuchen vorwiegend über die direkten Nachbarländer, ihr Land zu verlassen. Am Freitagvormittag berichteten unter anderem kasachische Behörden über vermehrte Grenzübertritte aus Russland:
WATCH: #Kazakhstan authorities said on Friday that they have noticed an increased number of arrivals from neighboring Russia after Moscow announced a conscription drive this week regarding the war in Ukraine. pic.twitter.com/P50tJUf2rd
— BNN Newsroom (@BNNBreaking) September 23, 2022
Auch aus der Mongolei gibt es vergleichbare Video-Mitschnitte, wie die britische Zeitung The Sun schreibt. Und laut BBC wollen auch an der russisch-georgischen Grenze zahlreiche Menschen ihr Land verlassen. Auf Twitter berichten verschiedene User von einer mehr als sieben Kilometer langen Auto-Warteschlange an der Grenze des osteuropäischen Landes.
The queue at the border of #Russia with Georgia has reached more than 7.5 km
— The HbK (@The5HbK) September 22, 2022
So the Russians are trying to escape from the mobilization announced by #Putin.
At the same time, it is reported that local residents of #Georgia pass through the border without a queue. pic.twitter.com/GdLpxApUs5
Bereits am Donnerstag kursierten ebenfalls Berichte über starken Ausreiseverkehr nach Finnland. Auch wenn die finnischen Behörden erste Meldungen über eine 35-Kilometer-Schlange bei einem Grenzübergang in Südfinnland dementierten, ist das Verkehrsaufkommen deutlich höher als vor Putins Ankündigung. Das berichtet Polit-Journalist Georg von Harrach:
Daily number of Russians entering Finland has doubled since Putin's mobilisation announcement.
— Georg von Harrach (@georgvh) September 23, 2022
EU officials meeting over the weekend to discuss the situation. "We're following the situation very closely", said a spokesperson. "The right to asylum...continues to apply" #Ukraine pic.twitter.com/LzqaqUN6ai
Doch nicht nur auf den Strassen gibt es Ausreisebemühungen. Laut dem kanadischen TV-Sender CBC ist die Nachfrage nach Flugtickets ins Ausland stark gestiegen – und mit ihr die Preise der Flüge. So seien teils über 5000 US-Dollar für einfache Flüge in benachbarte Länder bezahlt worden.
Das US-Newsportal NowThis berichtet gar von Preisen bis 9000 Dollar:
Tracking data shows the deluge of outgoing flights from Russia the same day Pres. Vladimir Putin announced he would be mobilizing 300k reservists. Some one-way, economy-class tickets reached $9k, according to reports. The announcement also sparked anti-war protests in 30+ cities. pic.twitter.com/LEWgzq1Z5H
— NowThis (@nowthisnews) September 23, 2022
Die Regierung von Wladimir Putin bezeichnet Berichte über einen «Exodus» als übertrieben. Stattdessen verweist sie lieber auf angeblich 10'000 Reservisten, die sich freiwillig zum Kampf gemeldet hätten, noch bevor sie ihre Einberufungspapiere erhalten hätten. Dies berichteten russische Nachrichtenagenturen am Donnerstag unter Berufung auf den russischen Generalstab.
Bei anderen Eingezogenen scheint dies nicht ganz so freiwillig zu passieren. Das unabhängige und regierungskritische russische Newsportal Mediazona berichtet, dass in der in Ostrussland gelegenen Region Burjatien die Mobilisierung vielmehr «einer Razzia gleiche». Vertreter des Wehrmelde- und Einberufungsamts seien von Tür zu Tür gegangen und hätten den Männern Vorladungen überreicht, wonach sie sich in lediglich 30 Minuten bei einer Sammelstelle melden mussten.