Als Jimmy Carter im Herbst 1974 seiner Mutter verkündete, er bereite eine Kandidatur fürs Präsidium vor, soll die formidable Lillian Carter zurückgefragt haben:
So ging es Carter oft in seinem langen Leben: Er wurde unterschätzt, ignoriert, verspottet – auch weil der 39. US-Präsident auf dem flachen Land im Süden Amerikas gross geworden war, und er alleweil zu spüren bekam, dass er wenig gemein mit den angeblich kultivierten Vertretern des politischen Establishments habe.
Carter aber, getrieben von einem eisernen Willen, und dem Wunsch, stets sein Bestes zu geben, hielt Kurs. 1970 gewann der ehemalige Berufssoldat, im zweiten Anlauf, die Wahl um den Gouverneursposten von Georgia. Sechs Jahre später belehrte der vierfache Vater seine Kritiker eines Besseren, als er als Aussenseiter zuerst in den Vorwahlen um die Nomination zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten triumphierte und dann den republikanischen Amtsinhaber Gerald Ford im Ringen ums Weisse Haus bezwang.
Der Mann aus Plains (Georgia), der sein Geld jahrelang mit dem Anbau und Verkauf von Erdnüssen verdient hatte, stand plötzlich an der Spitze der westlichen Supermacht.
Und bereits an seinem ersten Amtstag, am 20. Januar 1977, machte Jimmy Carter – der eigentlich James Earl Carter hiess, aber auch als Erwachsener an seinem Kosenamen festhielt – deutlich, dass er Abstand von vielen traditionellen Machtdemonstrationen nehmen würde. Zusammen mit seiner Gattin Rosalynn und den vier gemeinsamen Kindern verzichtete er auf die traditionelle Fahrt in der schwer bewachten Limousine.
Stattdessen marschierte die Familie Carter bei eiskalten Temperaturen auf der Pennsylvania Avenue in Washington. Die versammelte Menschenmenge, das nicht mit dieser Geste gerechnet hatte, zeigte sich begeistert. «Es war einer dieser wenigen perfekten Momente im Leben, in denen alles absolut richtig zu sein scheint», sagte der 39. Präsident später.
In seiner Amtszeit waren solche Momente äusserst selten. Carter hatte das Pech, dass die Siebzigerjahre für Amerika ein Jahrzehnt voller aussenpolitischer und wirtschaftlicher Rückschläge darstellten. Der Demokrat sah sich mit einer Ölpreiskrise konfrontiert, deren Schockwellen das Selbstvertrauen der amerikanischen Konsumentinnen und Konsumenten zerstörte und das Land in eine Malaise versinken liess. (Zwischenzeitlich stieg die Inflationsrate auf bis zu 15 Prozent.)
Einige der Probleme, mit denen sich der 39. Präsident konfrontiert sah, waren aber auch selbst verschuldet. So gelang es Carter nie, gute Beziehungen zu seinen demokratischen Parteifreunden in Washington aufzubauen, die damals sowohl den Senat als auch das Repräsentantenhaus dominierten. Ambitionierte Ideen des technokratisch veranlagten Präsidenten landeten deshalb oft in einer Schublade.
Auch stiess Carter viele Verbündete vor den Kopf, weil er sich partout weigerte, die Regeln des Politbetriebs in der amerikanischen Hauptstadt zu akzeptieren. Der Mann mit den eisblauen Augen und dem breiten Grinsen wirkte zu oft rechthaberisch und kleinlich, als schäme er sich, ein Politiker zu sein. Weil er zudem der erste Präsident war, der offen über seinen christlichen Glauben sprach und angeblich jeden Tag bis zu 30 Mal betete, wurde Carter bald als Wanderprediger belächelt.
Es waren allerdings ausrechnet Eigenschaften wie sein Hang zum Starrsinn und sein Missionseifer, denen Carter die grössten Erfolge seiner Amtszeit zu verdanken hat. Denn wenn sich der Autodidakt in etwas verbiss, dann liess er selten los. 1978 besiegelte er das Camp-David-Abkommen, den Grundstein für den später abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten.
13 Tage lang verbrachte Carter zusammen mit hochrangigen Vertretern der beiden verfeindeten Staaten im präsidialen Landsitz in der Nähe von Washington; mehrmals drohten die Gespräche zu platzen. Carter aber gab nicht auf und ermöglichte die historische Umarmung zwischen Menachem Begin, dem israelischen Ministerpräsidenten, und Anwar as-Sadat, dem ägyptischen Diktator.
Diese Verdienste Carters rückten aber 1979 und 1980 in den Hintergrund, als er sich im Iran, in Afghanistan und in Europa mit einer Reihe aussenpolitischer Krisen konfrontiert sah, die seine Regierung schlicht überforderten. Den stärksten Eindruck, bis heute, hinterliess dabei die islamische Revolution im Iran und die Besetzung der US-Botschaft in Teheran im November 1979, die 444 Tage andauern sollte.
Carter stand dem alten iranischen Machthaber Mohammad Reza Pahlavi zwar sehr kritisch gegenüber. Hinter verschlossenen Türen sagte der US-Präsident noch im Sommer 1979 über den langjährigen amerikanischen Verbündeten: «Scheisst auf den Schah!» Im Oktober gab er aber dem Druck seiner Berater nach, und liess den schwerkranken Machthaber in die USA einreisen, damit sich der autoritäre Herrscher medizinisch behandeln lassen könnte.
Damit legte der amerikanische Präsident den Funken für die Besetzung der US-Botschaft in Teheran im November 1979; in den Augen älterer Amerikanerinnen und Amerikaner ist dieses Ereignis, und die Festhaltung von 52 Botschaftsangestellten während 444 Tagen, immer noch eine der demütigsten Episoden der amerikanischen Nachkriegsgeschichte.
Carter, ein klassischer Kalter Krieger, wurde vom islamistischen Extremismus auf dem falschen Fuss erwischt. Als im Dezember 1979 auch noch die Sowjetunion ins Nachbarland Afghanistan einmarschierte – was sich als eine kolossale Fehlentscheidung des Kremls erweisen sollte – war Carter am Ende.
Seine Parteifreunde leckten Blut. Zwar überlebte Carter den Angriff seines parteiinternen Widersachers Ted Kennedy, der sich 1980 vergeblich um die Nomination zum Präsidentschaftskandidaten bemühte. Ins Duell mit dem Republikaner Ronald Reagan, dem ehemaligen Filmschauspieler und Gouverneur von Kalifornien, stieg der Amtsinhaber aber dennoch angeschlagen – weil nun auch eine grosse Zahl von Demokraten an seinen politischen Fähigkeiten zweifelten.
Als auch letzte Versuche scheiterten, die Geiseln in der US-Botschaft in Teheran freizubekommen, wurde Carter von den Wählerinnen und Wählern im November 1980 abgestraft. Er gewann nur 41 Prozent der Stimmen und 49 der 535 Elektoren. (Die Geiseln wurden einige Minuten nach der Amtseinführung von Präsident Reagan am 20. Januar 1981 freigelassen, eine letzte Demütigung der neuen Machthaber im Iran.)
Die Niederlage traf die Carters ins Mark. Jimmy und Rosalynn, verheiratet seit 1946, rappelten sich aber an ihrem alten Wohnort Plains wieder auf. Im kleinen Dorf in der Provinz schrieben sie Bücher, engagierten sich als Philanthropen und gründeten die gemeinnützige Organisation Carter Center in Atlanta (Georgia) – ein «Mini Camp David», das sich zum Ziel setzte, weltweit Frieden zu stiften und gesundheitspolitische Probleme zu lösen.
Und so begann die zweite Karriere eines Präsidenten, der von den Wählern verstossen worden war. Künftig interessierte sich der ehemalige Ingenieur Carter nicht mehr für die amerikanische Innenpolitik und den kontinuierlichen Streit zwischen Demokraten und Republikaner. Stattdessen verschrieb er sich dem Einsatz gegen den Guineawurm, einem Parasiten, der das Leben der Menschen in Zentralafrika zur Hölle machte. (2022 erkrankten nur noch 13 Menschen an Dracontiasis, der Infektionskrankheit, die der Wurm überträgt.)
Oder er flog er nach Nordkorea, um die atomare Aufrüstung des Regimes in Pjöngjang zu stoppen, und suchte nach einem Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern. Den Vorwurf, dass er sich zum Handlanger von Autokraten wie Jassir Arafat oder Fidel Castro mache, wies er stets zurück. Stattdessen stellte er sich auf den Standpunkt, dass selbst der übelste Herrscher es verdient habe, dass ihm jemand zuhöre. Und dass diese Gespräche letztlich dazu führten, dass sich die Lebensbedingungen vieler Menschen verbesserten.
Vielleicht wollte der nimmermüde Carter mit diesem Engagement auch eine Scharte aus seinen jüngeren Jahren auswetzen – als er die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung auf Distanz hielt, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Georgia gegen die Unterdrückung von dunkelhäutigen Amerikanerinnen und Amerikanern kämpfte. So traf sich der damalige Lokalpolitiker Carter nie mit dem 1968 ermordeten Friedensnobelpreisträger Martin Luther King, obwohl der Prediger doch aus Atlanta stammte.
Seinen Nachfolgern im Weissen Haus ging das Engagement Carters mächtig auf die Nerven. Bill Clinton hasste ihn, auch weil er die Wahlchancen eines demokratischen Präsidentschaftskandidaten auf Jahre hinweg zerstört hatte. (Es dauerte 12 Jahre, bis nach dem Abschied Carters wieder ein Parteifreund ins Weisse Haus zog.)
Der Republikaner George H.W. Bush spielte gar mit dem Gedanken, gegen den Ex-Präsidenten strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, weil dieser den Versuch sabotiert hatte, 1991 nach dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait eine internationale Koalition zu zimmern.
Carter schien dies egal zu sein. Er sah sich nie als vollwertiges Mitglied im (informellen) Club der Ex-Präsidenten, dem wohl exklusivsten Gremium der USA. Stattdessen stichelte er ständig gegen seine Nachfolger, die sich ihren Ruhestand mit bezahlten Ansprachen und lukrativen Mandaten vergoldeten. Der Weltverbesserer Jimmy Carter sagte:
2002 wurde Carter, der gute Mensch von Amerika, für sein Lebenswerk mit dem Friedensnobelpreis belohnt: Eine späte Ehre, die dem Ex-Präsidenten guttat.
Sein Leben aber veränderte sich dadurch nicht; auch der preisgekrönte Carter hielt an seinen bisweilen schrulligen Gewohnheiten fest. So gab Carter bis 2019 in einer Baptistenkirche, die er mitbegründet hatte, regelmässig Sonntagsschulunterricht. Vor Hunderten von Touristinnen und Touristen sprach er in Plains über eine ihm wichtige Bibel-Passage und plauderte über sein abwechslungsreiches Leben.
Jimmy Carter, der den Wählerinnen und Wählern einst versprach, dass er sie nie anlügen würde (und dieses Versprechen so gut wie möglich hielt), ist am Sonntag in Plains gestorben – wenige Wochen nach der Präsidentenwahl, in der er unbedingt noch seine Stimme für die Demokratin Kamala Harris hatte abgeben wollen. Seine Gattin Rosalynn, in die er auch im hohen Alter noch verliebt war, starb im November 2023. Jimmy Carter war 100 Jahre alt. (bzbasel.ch)
die grosse liebe.
Im Falle von Jimmy Carter muss man wahrlich von einer beeindruckenden Person sprechen.