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Eine Hinrichtung und eine Verschwörung erschüttern Chicago – die Schockwellen reichen bis ins Weisse Haus

Rahm Emanuel, Bürgermeister von Chicago und Obama-Intimus, kämpft um sein politisches Überleben.
Rahm Emanuel, Bürgermeister von Chicago und Obama-Intimus, kämpft um sein politisches Überleben.
Bild: AP

Eine Hinrichtung und eine Verschwörung erschüttern Chicago – die Schockwellen reichen bis ins Weisse Haus

11.12.2015, 09:5511.12.2015, 10:12
Kian Ramezani
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«Ohne Loyalität bist du niemand und hast niemanden. Und in der verdammten Politik ist Loyalität die einzige Währung, die etwas zählt», sagt Philip Seymour Hoffman in einer berühmten Szene in George Clooneys Politdrama «The Ides of March». Eine interessante Fallstudie über Loyalität in den allerhöchsten Gefielden amerikanischer Politik bietet derzeit die Affäre um die Erschiessung des 17-jährigen Laquan McDonald. Zur unglaublichen Brutalität kommt eine mögliche Verschwörung hinzu, die auch Barack Obama und Hillary Clinton schlaflose Nächte bereiten dürfte.

Aber alles der Reihe nach.

Am 20. Oktober 2014 erschiesst der weisse Polizist Jason Van Dyke in Chicago den schwarzen Teenager Laquan McDonald. Dieser trägt ein Messer auf sich. Als ihn die Polizei stellt, wendet er sich ab und läuft weg. Trotzdem feuert Van Dyke sein ganzes Magazin auf McDonald. 16 Schuss – 14 davon, als das Opfer bereits am Boden liegt. Während er nachlädt, rät ihm ein anderer Polizist, das Feuer einzustellen. Im Bericht heisst es später, der Teenager habe den Polizisten angegriffen, worauf dieser aus Notwehr das Feuer eröffnete.

Dashcam-Video von der Erschiessung Laquan McDonalds.
YouTube/FOX 10 Phoenix

Zur selben Zeit führt ein anderer Fall von Polizeigewalt im Nachbarstaat Missouri zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Ein weisser Polizist hatte den unbewaffneten schwarzen Teenager Michael Brown erschossen. Als eine Grand Jury entscheidet, den Polizisten nicht anzuklagen, eskalieren die Unruhen in Ferguson. Dieser und andere Fälle von mutmasslich rassistisch motivierter Polizeigewalt führen vielerorts in den USA zu teilweise gewaltsamen Protesten.

Zurück nach Chicago: Zum Zeitpunkt von Laquan McDonald Erschiessung befindet sich der demokratische Bürgermeister Rahm Emanuel in einem unerwartet mühsamen Wahlkampf um eine zweite Amtszeit. Nachdem dem starken Abschneiden eines innerparteilichen Herausforderers muss er sich einer Stichwahl stellen. 

Anti-Emanuel-Demo in Chicago (09.11.2015)
Anti-Emanuel-Demo in Chicago (09.11.2015)
Bild: Charles Rex Arbogast/AP/KEYSTONE

Was nun passierte, könnte den Bürgermeister im Nachhinein sein Amt kosten: Über ein Dutzend Reporter drängten auf Herausgabe der Videos, das die Dashcams der Polizeiwagen von der Erschiessung McDonalds aufgenommen hatten. Emanuel weigerte sich und seine Juristen erreichten vor Gericht, dass das Material unter Verschluss bleibt. Am 7. April 2015 gelang Emanuel die Wiederwahl.

Kritiker, darunter auch in den beiden US-Leitmedien «New York Times» und «Washington Post», werfen Emanuel vor, das verstörende Videomaterial von McDonalds Erschiessung absichtlich zurückgehalten zu haben. Damit habe er verhindern wollen, dass sich in Chicago Szenen wie in Ferguson abgespielten, die so überhaupt nicht in seinen Wahlkampf gepasst hätten.

Beweise für diese happigen Vorwürfe sind bislang keine aufgetaucht, doch mehrere Indizien lassen Emanuel in einem schlechten Licht erscheinen. Eine Woche nach geglückter Wiederwahl zahlte die Stadt den Angehörigen McDonalds Schmerzensgeld von fünf Millionen Dollar.

Der Polizist Jason Van Dyke, der des Mordes an Laquan McDonalds angeklagt ist.
Der Polizist Jason Van Dyke, der des Mordes an Laquan McDonalds angeklagt ist.
Bild: AP/Cook County Sheriff's Office

Hinzu kommen Ungereimtheiten: Fünf mit Dashcams ausgerüstete Polizeiwagen waren am Tatort, doch nur zwei nahmen Videos auf, und auf denen fehlt der Ton. Die entscheidenden Minuten, die von der Sicherheitskamera eines nahegelegenen Burger Kings aufgenommen wurden, sind unter ungeklärten Umständen gelöscht worden.

Das Videomaterial blieb unter Verschluss, bis ein Gericht schliesslich die Veröffentlichung bis spätestens am 25. November 2015 befahl. Bürgermeister Emanuel fügte sich einen Tag vor Ablauf der Frist. Innerhalb einer Woche wurde der betroffene Polizist des Mordes angeklagt und der Polizeichef von Chicago entlassen – nachdem über ein Jahr nach der Erschiessung McDonalds gar nichts passiert war. 

Rahm Emanuel entlässt den Polizeichef von Chicago (01.12.2015)
YouTube/Associated Press

Viele Bürger Chicagos geben sich mit der Entlassung des obersten Polizisten nicht zufrieden. Laut einer aktuellen Umfrage fordert eine knappe Mehrheit inzwischen auch den Rücktritt des Bürgermeisters. Dieser hat sich am Mittwoch erstmals öffentlich entschuldigt. Der Fall zieht Kreise bis in die Hauptstadt, denn Rahm Emanuel ist nicht irgendein Bürgermeister. Er gehört zum innersten Zirkel Barack Obamas und war von 2009 bis 2010 dessen Stabschef. Noch heute geniesst er einen direkten Draht zum Präsidenten: Er soll einer der wenigen sein, die Obamas private E-Mail-Adresse kennen.

Obama und sein Stabschef Emanuel im Oval Office am ersten Arbeitstag des neuen Präsidenten (21.01.2009).
Obama und sein Stabschef Emanuel im Oval Office am ersten Arbeitstag des neuen Präsidenten (21.01.2009).
bild: white house/ pete souza

Und so hören alle genau hin, was der Präsident über die Affäre sagt. Stärkt er seinem langjährigen Weggefährten den Rücken? Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Videos zeigte sich Obama in einem Facebook-Post «tief erschüttert» über die Aufnahmen und rief dazu auf, der «überwätigenden Mehrheit» der Polizisten zu danken, die ihren Dienst mit «Ehre» verrichteten.

Wenige Tage später musste sein Pressesprecher zahlreiche Fragen zu dem Thema beantworten. Ob Rahm Emanuel als Bürgermeister noch tragbar sei, wollte einer der Journalisten wissen. Es sei an den Bürgern Chicagos, dies zu entscheiden, entgegnete Josh Earnest. Ob der Präsident und Emanuel seit der Veröffentlichung des Videos miteinander gesprochen hätten, konnte er nicht sagen. Gleichzeitig vermied er es, den langjährigen Weggefährten seines Chefs explizit zu kritisieren. Beobachter werten diese zurückhaltenden Aussagen unterschiedlich. Manche sehen darin ein Zeichen der Loyalität Obamas gegenüber seinem ehemaligen Stabschef, andere eine Distanzierung.

Gänzlich aus der Affäre heraushalten konnte sich der Präsident freilich nicht. In Ferguson hatte er eine Untersuchung durch das Justizdepartement angeordnet – eine Unterlassung im aktuellen Fall wäre zweifellos als Freundschaftsdienst an Rahm Emanuel aufgefasst worden. Doch Anfang dieser Woche teilte Justizministerin Loretta Lynch mit, dass genau eine solche Untersuchung der Polizei Chicagos begonnen habe – mit oder ohne Unterstützung der Stadtbehörden, wie sie betonte.

Emanuel hatte sich zunächst gegen den Schritt gewehrt. Schliesslich sagte er, Chicago «begrüsse und brauche» diese Untersuchung. Viel anderes blieb ihm auch nicht mehr übrig. Ob im Rahmen dieser Untersuchung auch seine Rolle beleuchtet wird, ist allerdings unklar.

Politisch kann das Schicksal Emanuels Obama nicht mehr allzu gefährlich werden, seine zweite und letzte Amtszeit endet 2016. Für die Demokraten und ihre wahrscheinliche Kandidatin Hillary Clinton hat die Sache durchaus Potential, Schaden anzurichten. Afro-Amerikaner gehören zu ihren treuesten Wählern. Was, wenn sie anfangen, sich zu fragen, wen sie da eigentlich wählen, fragt die «Washington Post» in einem Meinungsbeitrag. Wenn demokratische Politiker mehr über ihre Wiederwahl besorgt sind als um die Rechte von Schwarzen, dann könnte man der Urne fernbleiben oder gar für einen Republikaner einlegen.

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2 Kommentare
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maddiepilz
11.12.2015 11:20registriert Mai 2015
guter Artikel, danke!
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