Eine Geschichte als Erster herauszubringen, ist eines der höchsten Gefühle im Medienbetrieb. Der «Primeur» (englisch «Scoop») birgt aber auch beträchtliches Frustrationspotential – nämlich wenn einem die Konkurrenz im letzten Moment doch noch zuvorkommt.
Auf den ersten Blick scheint dies der Enthüllungsplattform Wikileaks passiert zu sein, als sie am Wochenende Teil 15 der gehackten E-Mails von Hillary Clintons Wahlkampfchef John Podesta veröffentlichte.
RELEASE: The Podesta Emails Part 15 https://t.co/wzxeh70oUm #PodestaEmails #PodestaEmails15 #imWithHer #HillaryClinton pic.twitter.com/UxQZbrgxa1
— WikiLeaks (@wikileaks) 22. Oktober 2016
Der entsprechende Tweet wurde am 22. Oktober 14.50 Uhr MEZ abgesetzt. Doch RT America, die US-Redaktion des russischen Auslandsenders RT, kam Wikileaks um 30 Minuten zuvor. Der entsprechende Tweet datiert vom 22. Oktober 14.20 Uhr MEZ.
BREAKING: Wikileaks releases latest batch of emails from Clinton campaign chair #Podesta15 https://t.co/KDga5HEgEZ
— RT America (@RT_America) 22. Oktober 2016
Wie kann das sein, fragen sich nun viele auf Twitter. Darunter auch der ehemalige schwedische Premierminister Carl Bildt:
Really impressive by Russia state media to report on Wikileaks releases before they are released. Contacts counts. pic.twitter.com/ZLNCxDrUUa
— Carl Bildt (@carlbildt) 24. Oktober 2016
Wikileaks Task Force, ein frisch gegründeter Twitter-Account, der laut eigener Beschreibung «Unwahrheiten über Wikileaks korrigiert», hat eine einfache Erklärung für den Zeitunterschied:
Tweet time ≠ release time.
— WikiLeaks Task Force (@WLTaskForce) 24. Oktober 2016
We don't always immediatly tweet when we release. Everyone can check our website.
Was that so hard to figure out? https://t.co/zNgWXn9eIv
Und auch vom offiziellen Wikileaks-Twitter-Konto gibt es eine gleichlautende Reaktion auf den Post eines Journalisten des US-Staatssenders Radio Free Liberty:
@ChristopherJM @RT_com No they didn't. The release was visible to anyone looking at https://t.co/wzxeh7hZLU well before our first tweet.
— WikiLeaks (@wikileaks) 13. Oktober 2016
Auch RT äussert sich ähnlich:
In zwei Punkten bleiben Zweifel an dieser Darstellung bestehen (Anfragen von watson an Wikileaks und RT mit Bitte um Klärung blieben bislang unbeantwortet):
1. Die von Wikileaks verlinkte Seite weist ein Publikationsdatum für die gehackten E-Mails aus – aber keinen Zeitpunkt. Die Darstellung, die Daten seien dort «viel früher als der erste Tweet sichtbar» gewesen, kann nicht überprüft werden. Wikileaks könnte die Kontroverse umgehend beenden, wenn es den genauen Publikationszeitpunkt nennen und einen Beleg dafür liefern würde. Beides wäre problemlos machbar.
2. Dass Wikileaks Zeit zwischen seinem Upload und dem ersten Tweet verstreichen lässt, ist theoretisch möglich, macht aber aus Sicht einer Medienorganisation wenig Sinn (siehe Einleitung Primeur).
Die Anschuldigungen, Wikileaks sei zu einem Propaganda-Instrument Russlands verkommen, haben das Ansehen der Enthüllungsplattform stark beschädigt. Die Organisation verteidigt sich mit dem korrekten Hinweis, dass Kritik an Clinton nicht automatisch Unterstützung für Trump bedeute.
Is it really necessary to keep pointing out that "criticism of Clinton" ≠ "support for Trump"? Just get a different tactic. | @ggreenwald
— WikiLeaks (@wikileaks) 22. Oktober 2016
Und dass Wikileaks nicht selber hacke, sondern aus anonymen Quellen Dokumente entgegennehme, diese verifiziere und dann publiziere:
Reminder: #WikiLeaks is a publisher. We don't hack.
— WikiLeaks Task Force (@WLTaskForce) 25. Oktober 2016
Anonymous sources submit documents on our platform.
We verify and publish.#defendWL
Diese objektiv korrekte Argumentation übersieht, dass die russische Regierung, die laut US-Geheimdiensten mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter dem E-Mail-Hack steckt, nicht irgendeine «anonyme Quelle» ist.
Wer Wikileaks verdächtigt, implizit oder explizit eine russische Agenda zu befördern, wird sich durch die Twitter-Geschichte bestätigt fühlen. Vor allem wenn Julian Assange und Co. am selben Tag in einem anderen Tweet gegen Clinton schiessen und Putin verteidigen. Und dabei noch billigen Antisemitismus bemühen.
The new sober cover of the Economist, which is controlled by Lynn de Rothschild, Clinton's "loyal adoring pal" https://t.co/oTCspy3ddR pic.twitter.com/KuRRfEELLJ
— WikiLeaks (@wikileaks) 22. Oktober 2016
- Haben die Demokraten Sanders systematisch schlecht gemacht? Hat Clinton die Verantwortliche danach angestellt?
- Hat sie als Aussenministerin Waffenverkäufe in 20 Länder genehmigt, welche der Clinton Foundation Geld gespendet haben?
- Hat sie interveniert, als gegen die Corning Inc. (grosser Spender) Steuerermittlungen aufgenommen werden sollten?
- Hat sie in Delaware eine Briefkastenfirma?
Das wären auch spannende Fragen.