Noch sind die Umstände, welche zu den Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 geführt haben, nicht abschliessend geklärt. Klar ist aber: Alle Indizien deuten auf einen Anschlag hin. Der Leiter des schwedischen Erdbebenzentrums, Björn Lund, sagte: «Es gibt keinen Zweifel, dass es sich dabei um Explosionen handelte.» Auch Ursula von der Leyen spricht bereits offen von Sabotage.
Spoke to @Statsmin Frederiksen on the sabotage action #Nordstream.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) September 27, 2022
Paramount to now investigate the incidents, get full clarity on events & why.
Any deliberate disruption of active European energy infrastructure is unacceptable & will lead to the strongest possible response.
Die Täter hinter den mutmasslichen Anschlägen werden, so spekuliert der «Guardian», unter Umständen nie gefunden werden können. Der Kreis der Verdächtigen ist indes klein, denn für eine Operation von dieser Grössenordnung kommen fast nur staatliche Akteure infrage. Entscheidend dabei ist: Sämtliche Anschläge fanden in internationalem Gewässer statt – «als ob die ausführenden Kräfte tunlichst darauf geachtet hätten, ja nicht in NATO-Raum einzudringen», analysiert der «Guardian».
Fast postwendend beschuldigte die Ukraine Russland als Täter – dies ohne Beweise vorzulegen. Die britische «Times» schlägt unter Berufung auf Geheimdienstkreise in dieselbe Kerbe. Auch der deutsche CDU-Politiker Roderich Kiesewetter und die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann verdächtigten offen Russland. Laut CNN sei Russland auch der einzige Akteur der Region, der sowohl die Fähigkeit als auch die Motivation dafür besässe, die Pipelines absichtlich zu beschädigen.
Kreml-Sprecher Peskow wies am Mittwoch sämtliche Anschuldigungen als «dumm» und «vorhersehbar» zurück und spielte den Ball in Richtung USA weiter. Es sei bekannt, dass die USA schon immer vehemente Gegner des Projekts gewesen seien. Tatsächlich äusserte sich Präsident Joe Biden im Februar 2022 eindeutig: «Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird es Nord Stream 2 nicht geben.»
Das Video macht nun in den sozialen Medien die Runde – meist ohne Kontext. Was oft verschwiegen wird: Gleich neben Joe Biden steht Olaf Scholz. Deutschland und die USA hatten sich darauf geeinigt, Nord Stream 2 im Falle einer russischen Aggression gegenüber der Ukraine stillzulegen.
Videos dieser Art und die unsichere Sachlage sind der beste Dünger für wilde Spekulationen. Und immer wieder wird gefragt: cui bono – wem nützt's. Wie aber das aktuelle Beispiel der Ukraine-Invasion zeigt: «Nutzen» ist subjektiv und kann deshalb nicht immer abschliessend definiert werden.
Drei grosse Zubringer sind theoretisch in der Lage, russisches Gas nach Westeuropa zu liefern. Nord Stream 1 und 2, Jamal und Transgas. Nord Stream ist die einzige direkte Pipeline von Russland nach Deutschland.
Die ältere Pipeline, Nord Stream 1, ist zu 51 Prozent im Besitz des russischen Energiekonzerns Gazprom. Die neuere Pipeline Nord Stream 2 gehört über eine AG in Zug zu hundert Prozent Gazprom. Sie wurde allerdings nie in Betrieb genommen. Denn es kam, wie die USA und Deutschland vereinbart hatten: Olaf Scholz stoppte das umstrittene Projekt vor dem Einmarsch von Russland in die Ukraine.
Auch durch Nord Stream 1 fliesst schon seit Tagen kein Gas mehr. Betreiber Gazprom stoppte die Lieferungen mit der (fadenscheinigen) Begründung von Reparaturarbeiten. Wann die leckgeschlagenen Röhren geflickt sind und der Betrieb theoretisch wieder aufgenommen werden könnte, ist ungewiss. In Deutschland wird sogar spekuliert, dass durch Nord Stream 1 nie mehr Gas strömt.
Aktuell kann Russland die EU nur noch über die Zuleitungen Jamal und Transgas mit Gas beliefern. Das wird auch getan – allerdings in geringerem Masse als vereinbart. Diese Pipelines führen durch Belarus, Polen und die Ukraine. Damit ist Russland auf den Goodwill dieser Staaten angewiesen – und es sind Transitabgaben fällig. Im Falle der Ukraine sind dies bis zu drei Milliarden Dollar pro Jahr.
Die Probleme sind vorprogrammiert. Die Ukraine und Russland beschuldigen einander, vertragsbrüchig geworden zu sein. Russland droht nun, auch die Gaslieferungen durch die Ukraine einzustellen.
Nord Stream 2 ist ein international sehr umstrittenes Projekt. Die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine und die USA setzten sich entschieden gegen den Bau ein. Sie befürchteten, dass sich die EU damit in eine noch grössere wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland manövriert – und damit politische Handlungsfähigkeit im Konfliktfall verliert.
2019 titelte der «Economist»: «Die Nord-Stream-2-Gaspipeline ist eine russische Falle – und Deutschland ist hineingetappt». Belegt wird der Vorwurf damit, dass das Megaprojekt aus wirtschaftlicher Sicht für Russland keinen Sinn ergebe. Deshalb müsse man Putins Motivation für die Umsetzung anderswo suchen – auf der politischen Ebene.
Mit den direkten Pipelines nach Deutschland könne Russland die verhasste Abhängigkeit von den Transitländern ablegen. Für diese bedeuten die eigenen, mit russischem Gas gefüllten Pipelines eine Art Schutzschild.
Der Schaden, den Russland zum Beispiel in der Ukraine anrichten könne, sei beschränkt, solange Russland auf gewisse Dienste angewiesen sei. Dasselbe gelte, in einem geringeren Mass allerdings, auch für Polen. Mit dem Bau von Nord Stream habe sich Deutschland für billiges Gas und weniger Sicherheit in Europa entschieden. Weshalb sei unklar.
Wie sich jetzt zeigt, waren diese Befürchtungen gerechtfertigt. Mit dem längeren Ausfall beider Nord-Stream-Pipelines werden die alten Abhängigkeitsverhältnisse wieder hergestellt. Dies ist im Sinn der Ukraine, der baltischen Staaten und Polen. Sie werden den beiden Röhren nur wenige Tränen nachweinen. Aber auch die USA profitiert. Der politische Erzfeind wird empfindlich geschwächt und plötzlich tun sich Möglichkeiten auf, das eigene teure Fracking-Gas in Europa anzubieten.
Russland verliert mit Nord Stream ein Druckmittel gegenüber dem Westen. Über dessen Schlagkraft herrschen allerdings verschiedene Meinungen. Zuletzt häuften sich die Expertenstimmen, dass der Kreml den Gas-Krieg gegen Europa verliert. Am Ursprung dieser Aussagen stehen der stetig sinkende Gaspreis und die gut gefüllten deutschen Gasspeicher. So verkündete Olaf Scholz vor wenigen Tagen: «Wir werden gut durch den Winter kommen.» Helfen wird auch das erste deutsche Flüssiggasterminal in Brunsbüttel. Es wird noch vor Ende des Jahres in Betrieb gehen. Europa arbeitet sich vom russischen Gas weg. Soeben wurde die neue Baltic Pipe von Norwegen nach Polen eingeweiht.
Wie sehr Wladimir Putin der Ausfall von ungenutzten Pipelines mit bescheidenen Perspektiven schmerzt, steht zur Debatte. Zumal dem Ex-Geheimdienstler ein Anschlag ebenfalls von Nutzen sein kann, wie Johannes Peters, Leiter der Abteilung Maritime Strategie und Sicherheit der Universität Kiel, gegenüber Reuters erklärt: «Eine Motivation Russlands könnte sein, dem Westen zu zeigen, wozu es fähig ist. Dass es die Möglichkeit besitzt, kritische Infrastruktur zu beschädigen.»
Und von dieser kritischen Infrastruktur gibt es in der Ost- und in der Nordsee genügend. In einem Interview gegenüber der «Welt» erklärte der deutsche Marineinspekteur Jan Christian Kaack: «Auf dem Grund der Ostsee, aber auch im Atlantik gibt es einiges an kritischer Infrastruktur wie Pipelines oder Unterseekabel für IT. Da können sie Ländern wie Estland schnell das Licht ausschalten». Tatsächlich berichtet Kaack von russischen Manövern an strategisch wichtigen Stellen: «Es gibt sicherlich einen Grund, weshalb russische Unter- und Überwassereinheiten sich über längere Zeit im Bereich dieser Kabel aufhalten.»
Ein ähnlicher Angriff auf die Röhren, die von Norwegen nach Deutschland, Belgien und die Niederlande führen, wäre in der Tat für die europäische Gasversorgung fatal, schreibt dazu der Spiegel.
I mean: imagine the next leak occuring on a pipeline from Norway. pic.twitter.com/eSUXPgOAcS
— Lion Hirth (@LionHirth) September 27, 2022
Nun giessen die Anschläge im ohnehin schon aufgerüttelten politischen Klima in Europa und den USA weiter Öl ins Feuer. In den sozialen Medien schlagen Verschwörer Purzelbäume, Fox-News-Scharfmacher Tucker Carlson nimmt (erneut) Russlands Steilpass auf und suggeriert ebenfalls, Bidens Regierung habe möglicherweise damit zu tun. In den USA stehen bald die Midterm-Wahlen an. Dass Putin die Republikaner bevorzugt, ist bekannt. Genauso wie seine Vorliebe für subversive Aktionen. Ihm spielt das öffentliche Interesse am Sabotageakt in die Karten, geraten damit seine innenpolitischen Probleme und seine Annexionsbestrebungen in der Ukraine etwas aus dem Rampenlicht. Auch für den Kreml-Chef gäbe es genügend Gründe, dem bereits gefallenen Schlachtross Nord Stream den Gnadenschuss zu verpassen.
… läuft bei uns 😶😶😶
Da fällt mir nur Russland ein. Die haben gar kein image mehr zu verlieren.
Wieso sollte die Ukraine die Unterstützung durch den Westen aufs Spiel setzen?