Erst ging es bloss um den Spritpreis: Präsident Emmanuel Macrons geplante Erhöhung der Ökosteuer auf Diesel und Benzin ab 1. Januar 2019 um sechs, respektive drei Cents, brachte das Fass zum Überlaufen.
Die Regierung erklärt die Erhöhung mit ökologischen Gründen. Doch es wäre falsch, bei den «gilets jaunes» von antiökologischen Protesten zu sprechen. Tatsächlich demonstrieren auch Umweltschützer. Ihr Credo: Warum wird nicht Kerosin besteuert, sodass das Fliegen teurer wird?
Die «gilets jaunes» werfen Macron vor, die Autofahrer zu melken, um die leeren Staatskassen zu füllen – 15 Milliarden Euro jährlich kann der Fiskus nach Angaben der französischen Konservativen zusätzlich erwarten.
Inzwischen ist die Bewegung der «Gelbwesten» aber zu einem Sammelbecken für die allgemeine Unzufriedenheit der Franzosen mit der Regierung geworden.
Die «gilets jaunes» entstanden aus dem Nichts. Sie organisieren sich in erster Linie in den sozialen Medien. Als offizieller Sprecher oder als Aushängeschild fungiert niemand.
Die «gelben Westen» wurde als Symbol für die Bewegung gewählt, da alle französischen Autofahrer seit 2008 gesetzlich dazu verpflichtet sind, Warnwesten in ihren Fahrzeugen mitzuführen. Die meisten Demonstranten haben die Weste somit zur Hand.
Seit dem 17. November errichten die «gilets jaunes» in ganz Frankreich Blockaden. Sie blockieren Autobahnzollstellen, Verkehrskreisel und Tankdepots, um gegen die Benzin- und Dieselpreise und gegen Macrons Reformpolitik zu demonstrieren. Es handle sich um den Mai 68 der unteren Mittelklasse, schreiben Kommentatoren.
Letztes Wochenende arteten die Demonstrationen der Bewegung endgültig aus: 10'000 Menschen marschierten in Paris, über 130'000 im ganzen Land, schätzen die Sicherheitsbehörden. Es war bereits der dritte nationale Protesttag.
Der Triumphbogen wurde stark in Mitleidenschaft gezogen, einer Statue der Marianne, einem Symbol der Französischen Republik, wurde das Gesicht eingeschlagen. Es habe auch eine methodische Plünderung der Ausstellungsräume gegeben, und Vitrinen und Scheiben seien zerschlagen, eine Marmorbüste von Napoleon geköpft worden, schreibt die Zeitung «Le Figaro». Laut dem Leiter der Denkmal-Behörde, Philippe Bélaval, sind Schäden in Höhe von bis zu einer Million Euro entstanden. Zahlreiche Autos und Container gingen in Flammen auf.
Ce qu’il s’est passé aujourd’hui à Paris n’a rien à voir avec l’expression pacifique d’une colère légitime.
— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) 1. Dezember 2018
Mindestens 133 Personen wurden verletzt, über 370 befanden sich am Sonntag noch in Polizeigewahrsam. Obwohl im Vergleich zur Vorwoche im ganzen Land weniger Personen dem Aufruf gefolgt waren – 136'000 gegenüber 166'000 –, hat die Protestwelle eine neue Eskalationsstufe erreicht. Ausserhalb von Paris waren die Kundgebungen zwar ruhiger, aber auch nicht ohne Zwischenfälle verlaufen: Bei Arles im Süden gab es ein, in Marseille inzwischen zwei Todesopfer.
Präsident Emmanuel Macron machte sich am Sonntag nach seiner Rückkehr vom G-20-Gipfel in Buenos Aires ein Bild von der Zerstörung in der Hauptstadt. Anschliessend rief er seine Regierung zu einer Krisensitzung zusammen. Den Ausnahmezustand rief er jedoch nicht aus. Zwar machte die Polizei darauf aufmerksam, dass die Proteste von Personen infiltriert waren, die geschult eine Eskalation herbeiführen und wissen, wie man Krawall macht. Aber betroffen waren auch normale Leute. Die Härte, die ihnen die Ordnungskräfte entgegenbrachte, wird ihr Bild von der gegenwärtigen Regierung wohl kaum besänftigen.
Das Feindbild der Demonstrierenden ist klar benannt: Emmanuel Macron, Präsident im zweiten Amtsjahr. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Reichensteuer abzuschaffen. Es ist eine Entscheidung, die ihn jetzt mit Wucht einholt. Denn in die selbe Richtung geht die jetzige Kritik. Bei den derzeitigen Unruhen geht es nicht um die Frage, ob man für oder gegen eine Umweltpolitik ist, es geht darum, wer diese Politik finanzieren soll. Und es schürt den Zorn, dass Macron bei den Arbeitern ansetzt, nicht bei Vermögenden.
Die «gilets jaunes» zeugen von einer dumpfen Unzufriedenheit der «France d’en bas». So demonstrieren im breiten Bürgerbündis auch Wähler des Linksextremisten Jean-Luc Melenchon in friedlicher Eintracht mit Wählern des «Rassemblement National» (ehemals «Front National») von der Ultranationalistin Marine LePen sowie Anhängern aller Parteischattierungen dazwischen. Laut einer Umfrage empfindet eine Mehrheit der Franzosen Sympathien für die Bewegung.
Die Aktivisten halten sich fern von Gewerkschaften und Parteien, so sehr diese auch versuchen, aus der wachsenden Empörung Kapital zu schlagen. Wie Präsident Macron wollen die Aktivisten sich nicht in die traditionellen Volksparteien einreihen.
Diese Heterogenität stellt die Bewegung aber auch vor Probleme: Sie hat keine Führungsfigur, und damit auch kein Sprachrohr, das Diskussionen mit der Regierung führen könnte.
Macron wies Regierungschef Philippe an, sich am Montag mit den Chefs aller Parteien im Parlament sowie Vertretern der «gilets jaunes» zu treffen. In der Zeitung «Journal de Dimanche» bot sich zwar eine Gruppe von neun Personen, die sich «gilets jaunes libres» nennen, als Ansprechpartner für die Regierung an. Doch ob sie legitimiert sind, für die Mehrheit der «gilets jaunes» zu sprechen, ist unklar. Die Gespräche sollten dennoch am Montag beginnen.
Der Parteichefs von «La France Insoumise», Jean-Luc Mélenchon, und dem «Rassemblement National», Marine Le Pen, verlangten die Auflösung des Parlaments.
Mélenchon liess sich zu der Aussage hinreissen, der Staat habe die Ausschreitungen provoziert, weil er einen Vorfall brauche, um die «gilets jaunes» zu diskreditieren. Auf Twitter gab er zudem deutlich Sympathie zu erkennen.
Ce n'est pas une révolte, Sire, c'est une révolution !
— Jean-Luc Mélenchon (@JLMelenchon) 3. Dezember 2018
➡️ https://t.co/fLjGjREQkc#Macron #GiletsJaunes pic.twitter.com/VXEI3FrEAR
📹 « Le choix du Président de la République de communiquer exclusivement sur les casseurs, c'est aussi un choix de ne pas répondre aux revendications légitimes des #GiletsJaunes ! » #1erDécembre pic.twitter.com/8tH68rE1YU
— Marine Le Pen (@MLP_officiel) 2. Dezember 2018
Die Bewegung hat inzwischen Forderungen so vielfältig wie die Protestbewegung selbst. Im Zug der Geschehnisse veröffentlichten die «gilets jaunes» eine Liste von 40 Forderungen, darunter die Erhöhung des Mindestlohns in Frankreich, der Renten und die Rücknahme der Abschaffung der französischen Vermögenssteuer.
Es ist schwierig zu sagen, ob und wann der Protest sich alleine erschöpfen wird. Klar ist, in Frankreich haben Steuern durchaus Sprengpotential. Vor 229 Jahren waren sie der auslösende Funke zur Revolution.
Macron will nun im Rahmen eines grösseren Reform- und Sozialpakets die Lage der schlecht Verdienenden verbessern. Ob ihm dazu überzeugende Massnahmen einfallen, hat sich noch nicht herausgestellt. Für nächsten Samstag ist bereits die nächste nationale Kundgebung angekündigt.