Die Zukunft Grossbritanniens ist unsicherer denn je. Wird May noch einmal mit der EU über Nachbesserungen verhandeln? Wird das britische Volk noch einmal über den Brexit abstimmen? Welchen Weg Grossbritannien auch immer geht: Es braucht dringend mehr Zeit dafür. Wie geht es nun weiter?
Jeremy Corbyn, Oppositionsführer und Labour-Chef, hat einen Misstrauensantrag gegen die Regierung Mays gestellt. Corbyn kündigte dies am Dienstag im Parlament an, nachdem May die Brexit-Abstimmung verloren und sich bereit erklärt hatte, sich am Mittwoch einem solchen Votum zu stellen.
Mit dem Misstrauensvotum hofft Labour auf vorgezogene Neuwahlen. Allerdings ist fraglich, ob Corbyn genug Stimmen gegen May versammeln kann. Die nordirische DUP, die Mays Minderheitsregierung stützt, hat der Premierministerin bereits öffentlich ihre Unterstützung zugesichert – vorausgesetzt, sie verhandelt noch einmal mit der EU. «Die Premierministerin muss zurück zur Europäischen Union gehen und fundamentale Änderung beim Austrittsabkommen fordern», sagte DUP-Chefin Arlene Foster. Aus der European Research Group (ERG), der Brexit-Hardliner-Gruppe um den Konservativen Jacob Rees-Mogg, heisst es ebenfalls, sie würde May unterstützen – auch wenn sie gegen ihren Deal gestimmt hatte. Die ERG hatte im Dezember ein parteiinternes Misstrauensvotum gegen May initiiert und war damit gescheitert.
Sollte May die Vertrauensabstimmung am Abend im Parlament überstehen, stünde Corbyn unter Druck, sich hinter die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum zu stellen. Er hat diese Option nicht ausgeschlossen, sie aber davon abhängig gemacht, dass eine Neuwahl unmöglich ist.
Laut EU-Austrittsgesetz muss Mays Regierung spätestens 21 Tage nach der Ablehnung des Vertrages dem Parlament darlegen, wie es weitergehen soll. Das Unterhaus hat diese Frist auf drei Sitzungstage verkürzt – das wäre Montag, der 21. Januar. Das Parlament kann bei Vorlage des Plan B auch durchsetzen, dass es selbst das weitere Prozedere bestimmt, eine Mehrheit für eine Lösung findet und rechtlich eine Fristverlängerung von Artikel 50 bei der EU beantragt.
Bislang gibt es für ein zweites Brexit-Referendum keine Mehrheit im Parlament. Unklar ist zudem, über welche Fragen die Wählerinnen und Wählern abstimmen sollten. Im Moment sind drei Forderungen denkbar: Theresa Mays Deal, gar kein Deal oder in der EU bleiben. Die Wahlkommission will Referenden nicht weiter verkomplizieren und besteht auf zwei Antwortoptionen. Allerdings könnten auch zwei Fragen gestellt werden: «Brexit oder nicht?» Und «Wenn Brexit – No Deal oder der Deal von May?»
Allerdings gibt es ein grundsätzliches Problem: Im Juni 2016 hatte sich eine knappe Mehrheit der Briten für den EU-Austritt ausgesprochen. Umfragen zufolge ist seitdem die Zustimmung zu einem Verbleib nur marginal gestiegen. Es ist fraglich, wie ein zweites Referendum ausgehen würde. Kritiker fürchten, dass eine zweite Volksabstimmung die Spaltung in der britischen Gesellschaft weiter vertiefen würde. Würden die Briten sich für den Verbleib entscheiden, wäre das juristisch möglich: Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich entschieden, dass Grossbritannien einseitig seinen Antrag auf EU-Austritt zurückziehen kann, solange das Austrittsabkommen noch nicht in Kraft getreten ist. Das britische Parlament muss allerdings zustimmen. Ein Exit vom Brexit ist also möglich.
Immer wieder wird der Status von Norwegen als mögliche Alternative für Grossbritannien ins Spiel gebracht. Norwegen ist kein EU-Mitglied und auch nicht in der EU-Zollunion, aber Teil des Europäischen Wirtschaftsraums – einer Freihandelszone zwischen der EU und Island, Norwegen und Liechtenstein. Das Problem: Grossbritannien würde weiterhin die vier Freiheiten des Binnenmarkts akzeptieren müssen – also auch die Arbeits- und Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger. Zudem gibt es Zollkontrollen – alles Bedingungen, welche überzeugte Brexit-Anhänger nicht akzeptieren würden. Auch würden die Zölle die reibungslose, grenzüberschreitende Produktion etwa in der Autoindustrie extrem verteuern.
Rechtlich tritt Grossbritannien am 29. März, also in knapp zehn Wochen, aus der EU aus. Gibt es bis dahin kein Abkommen zwischen EU und Grossbritannien, das eine Mehrheit im britischen Parlament findet, hätte der Exit unkalkulierbare Folgen. Warum also nicht einfach den Austrittstermin verschieben? Der EU-Vertrag bietet diese Möglichkeit. Dort heisst es im Artikel 50, dass ein Staat, zwei Jahre nachdem er den Austritt mitgeteilt hat, die EU verlässt – «es sei denn, der Europäische Rat beschliesst im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedsstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern». Der Europäische Rat besteht aus allen Staats- und Regierungschefs der EU, also müssten alle Mitgliedsländer zustimmen.
Was aber passiert genau während der Fristverlängerung? Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte gleich am Mittwochabend an, dass Nachverhandlungen ausgeschlossen seien. Allerdings gibt sich die EU offen, May Zeit einzuräumen, um innenpolitisch zu verhandeln. Sollte May «uns mitteilen, dass sie mehr Zeit braucht, um das Parlament für einen Deal zu gewinnen, wird eine technische Verlängerung bis Juli angeboten», heisst es in Verhandlungskreisen. Bislang hat die Regierung aber keinen Antrag auf Fristverlängerung gestellt.
Das Parlament verlangt von May, dass sie innerhalb von drei Tagen erklärt, wie sie weitermachen will. Wenn sie im Parlament nur eine Mehrheit findet, die weitere Gespräche oder sogar Verhandlungen mit der EU erfordert, wird sie sich wohl als Erstes mehr Zeit für ihr Vorhaben sichern müssen – egal wie dieses aussieht. Hohe EU-Beamte rechnen laut Guardian und Deutscher Presse-Agentur damit, dass May einen Antrag auf Fristverlängerung stellt, den Brexit also um eine bestimmte Zeit aufschieben will.
Eine Fristverlängerung bliebe auch eine realistische Option, wenn Theresa May zurücktritt oder durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wird. Denn entweder wählt die Konservative Partei einen Nachfolger, der erneut mit der EU verhandeln will, oder es gibt Neuwahlen. Die brauchen Vorbereitungszeit. Und ein neuer Premierminister, der auf diese Weise an die Macht käme, würde ebenfalls Zeit zum Nachverhandeln benötigen. Dabei dürfte es vor allem um die Frage des Notfallplans für die irisch-nordirische Grenze gehen, den sogenannten Backstop.
Das bisherige Abkommen sieht vor, dass Grossbritannien mit der EU-Zollunion eine neue Zollunion bildet und Nordirland quasi im EU-Binnenmarkt bleiben sollen, bis ein Freihandelsabkommen mit der EU beschlossen ist, damit es nicht zu Kontrollen an der inneririschen Grenze kommt. Mays Gegner kritisieren, dass ihr Land wegen dieser Regelung für lange Zeit EU-Gesetze befolgen muss, ohne über sie mitentscheiden zu können.
May und die EU könnten diese Kritik ausräumen, wenn sie die Dauer des Backstops von Vornherein zeitlich befristeten. Seit Monaten schon versucht May, die EU davon zu überzeugen. Dann verliesse Grossbritannien zum Beispiel vier Jahre nach dem Austritt aus der EU automatisch auch die Zollunion und Nordirland den Binnenmarkt. Ein noch grösseres Zugeständnis der EU wäre, wenn man dem Vereinigten Königreich das einseitige Recht einräumte, den Backstop zu einem beliebigen Zeitpunkt zu beenden - was die EU bislang kategorisch ablehnt. Eine dritte Option wäre, den Britinnen und Briten gewisse Mitspracherechte in der Handelspolitik einzuräumen, solange sie Mitglied der Zollunion sind. Womöglich würden diese Änderungen einige Abgeordnete im britischen Parlament überzeugen, dem Austrittsabkommen doch noch zuzustimmen – und so einen harten Brexit verhindern. Allerdings gibt sich die EU bislang hart: Aus ihrer Sicht ist der sogenannte Backstop nur sinnvoll, wenn er zeitlich nicht befristet ist – da sonst erneut ein Austritt ohne Abkommen droht. Die EU hat allerdings ebenfalls kein Interesse an einem harten Brexit, da er auch die europäische Wirtschaft treffen würde.
Vom 23. bis 26. Mai wählen die Menschen in den EU-Ländern ein neues Europaparlament. Eigentlich war fest vorgesehen, dass das Vereinigte Königreich keine Abgeordneten mehr entsendet. 27 der 73 britischen Sitze sind schon für andere Länder vorgesehen, Irland etwa hat deshalb schon Wahlbezirke entsprechend neu verteilt. Die übrigen 46 Sitze sollten für zukünftige Vergrösserungen des Parlaments als Reserve dienen.
Sollte Grossbritannien über den Wahltermin hinaus Mitglied der EU bleiben, und sei es nur für wenige Wochen, müssten die Briten erneut Abgeordnete fürs Europaparlament wählen – quasi auf Abruf. Ansonsten könnten theoretisch britische Bürgerinnen und Bürger klagen, dass sie nicht im Parlament repräsentiert sind. Das Mandat der Abgeordneten würde mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU enden. Das wäre noch einfach. Kompliziert wird es, wenn es ins Detail geht und Versorgungsansprüche und die Geschäftsordnung des Parlaments neu justiert werden müssen. Aber selbst das liesse sich mit viel politischem Willen wohl noch organisieren. Bis zur Wahl im Mai würden dann die Kräfteverhältnisse im Parlament wie bisher bleiben. Dabei hatten die EU-Parlamentarier fest damit gerechnet, dass sich die Mehrheiten ab dem 29. März verschieben und keine britischen Abgeordneten mehr an den Sitzungen teilnehmen.
Wie die britischen Behörden allerdings so kurzfristig diese Wahl organisieren sollen und wer sich zu dieser Wahl aufstellt, ist völlig offen. Europawahlen brauchen mehrere Monate Vorlauf, Ausschreibungen müssen gemacht werden, Gesetze geändert und Beamte abgestellt werden, Wahllisten politisch ausverhandelt und dann auch noch gedruckt werden. Zudem ist «Abgeordneter auf Brexit-Abruf» kein attraktiver Ausblick, zumal für den Fall, dass er sogar weniger Mitspracherechte haben könnte. Auch dürften nur sehr wenige Menschen an den Wahlen teilnehmen, wenn kurz darauf ihr Land aus der Union austritt.
Erste Kommentatoren schlagen vor, den Termin der Europawahl zu verschieben, um all die oben genannten Probleme nicht zu haben. Doch politisch ist dies kaum vorstellbar und wohl auch nicht durchsetzbar: Ganz Europa soll wegen einer innenpolitischen Chaossituation in Grossbritannien nicht wie geplant wählen können? Es würde auch zu neuen Diskussionen in anderen Ländern führen, möglicherweise würde es dann Klagen geben, Listenplätze neu zu vergeben.
Im Falle eines ungeregelten Austritts drohen gravierende Konsequenzen für Grossbritannien und Teile der Wirtschaft in den EU-Anrainerstaaten. Die Briten wären von einem Tag auf den anderen nicht mehr über unzählige Abkommen und Vereinbarungen an die EU gebunden. Vor allem stünden sie ohne die Freihandelsabkommen da, welche die EU für ihre Mitgliedsländer abgeschlossen hat. Grossbritannien würde auf den Status eines Drittlandes fallen.
Der Handel würde nach den Regeln der Welthandelsorganisation ablaufen müssen. Das bedeutet, dass die Aussenzölle der EU gegenüber Grossbritannien als Drittstaat gelten würden. Gleichzeitig wären sofort Zoll- und Grenzkontrollen fällig, vor allem in den Häfen wie Dover und Calais. Das wiederum setzt Unternehmen unter Druck, die auf eine schnelle Abfertigung an den Grenzen angewiesen sind.
Sowohl die EU als auch Grossbritannien haben allerdings zahlreiche Vorkehrungen getroffen, um das Schlimmste für diesen Extremfall zu vermeiden. Grossbritannien wird sofort einseitig und freiwillig zahlreiche EU-Regulierungen einhalten, um weiterhin mit dem EU-Binnenmarkt handeln zu können. Die EU-Pläne sehen vor, dass – um etwa einen Zusammenbruch des Flugverkehrs zwischen dem Kontinent und Grossbritannien abzuwenden – weiter Direktflüge möglich sein sollen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.