Das Referat eines Parlamentspräsidenten lockt in der Regel kaum jemanden hinter dem Ofen hervor. Am Donnerstag aber erlebte die Universität Zürich einen regelrechten Ansturm. Rund 1000 Personen wollten hören, was John Bercow, der «Speaker» des britischen Unterhauses, zu sagen hatte. Sein Auftritt in der Aula musste in vier weitere Hörsäle übertragen werden.
Der Hauptgrund für das Interesse war Bercow selbst. Die endlosen Debatten im Parlament um den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union haben den 56-Jährigen zum Celebrity-Status verholfen. Seine «Orrdeeer!»-Rufe sind Kult, ebenso die launigen bis spitzen Bemerkungen, mit denen er erhitzte Zwischenrufer in die Schranken weist. Eitelkeit ist John Bercow keineswegs fremd.
Der Brexit war ein weiterer Grund für das Interesse am Zürcher Vortrag. Denn nach wie vor ist nicht klar, ob, wann und wie der Austritt vollzogen wird. Dazu passte der Anlass für Bercows Auftritt auf Einladung des Europainstituts der Universität. Auf den Tag genau 73 Jahre zuvor hatte Winston Churchill in der Aula seine legendäre Zürcher Rede gehalten, in der er zur Einigung Europas aufrief.
Seine Heimat nahm der britische Kriegspremier davon aus, was Brexit-Befürworter oft und gerne hervorheben. Für John Bercow, der Churchill als «politischen Koloss» würdigte, ist die Sache nicht so einfach. Zwar habe sich Europa seit damals signifikant verändert, in einer Weise, die Churchill nicht vorgesehen habe. «Was würde er darüber denken? Wir wissen es nicht», betonte Bercow.
Beim Brexit sieht der Speaker drei Szenarien: Einen vertraglich geregelten Austritt, abgesegnet vom Parlament. Einen No-Deal-Brexit, aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Und eine Verschiebung, wie sie das vom Parlament verabschiedete und von der Königin unterzeichnete Gesetz für den Fall verlangt, dass bis zum 31. Oktober keine Einigung mit der EU vorliegt.
Er wisse nicht, was geschehen werde, betonte Bercow. «Meine Aufgabe ist es nicht, den Brexit zu liefern oder zu verzögern, sondern den Willen des Parlaments zu vertreten.» Man konnte dies als Kampfansage an den konservativen Premierminister Boris Johnson verstehen. Dieser hatte wiederholt betont, er werde am 31. Oktober aus der EU austreten, koste es, was es wolle.
Das Parlament aber hat einen No-Deal-Brexit wiederholt abgelehnt, zuletzt in Form des besagten Gesetzes. Für Bercow, der Johnsons Namen kein einziges Mal in den Mund nahm, wäre damit mehr als nur eine rote Linie überschritten. «Gesetz ist Gesetz!», rief er dem Publikum zu und zitierte eine Redewendung: «Egal wie hoch man steht, das Gesetz steht höher.»
John Bercow wurde als Vertreter der Konservativen Partei ins Parlament gewählt. Nach seiner Wahl zum Speaker im Juni 2009 legte er seine Mitgliedschaft nieder, um unabhängig agieren zu können. In Zürich präsentierte er sich als feurigen Verfechter der parlamentarischen Demokratie, der in seinen zehn Amtsjahren die Befugnisse der Legislative sukzessive ausgebaut hat.
Früher war das britische Parlament nicht viel mehr als ein ausführendes Organ der Regierung. Das hat sich geändert. «Als ich mein Amt anstrebte, war es mein Ziel, die notwendigen Reformen zu liefern», sagte Bercow. Es ist ihm gelungen, wofür ihm besonders die Hinterbänkler dankbar sind. Sie durften früher kaum mehr tun als abstimmen und das Wort ergreifen.
2008 habe es im Unterhaus nur zwei dringliche Anfragen gegeben, und dies im Jahr der grossen Finanzkrise, sagte Bercow. «In den letzten zehn Jahren waren es 658», teilte er dem Zürcher Publikum stolz mit. Es gehe darum, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, «die Füsse der Minister ins Feuer zu halten», verteidigte er dieses in anderen Ländern selbstverständliche Instrument.
Dazu gehören auch dringliche Debatten, die früher kaum vorkamen. Bercow liess sie 34 Mal zu, zuletzt beim Brexit-Gesetz. Dabei kam es regelmässig zu Kontroversen, denn das Königreich besitzt keine geschriebene Verfassung. Die Gesetzgebung basiert auf Präzedenzfällen und Gewohnheitsrecht. John Bercow machte klar, dass er eine Verfassungsdebatte begrüssen würde.
Der Speaker ist nicht nur wegen seiner farbigen Krawatten und seiner Rhetorik eine schillernde Figur. Zu Beginn seiner politischen Karriere stand der Sohn eines Londoner Taxifahrers am rechten Rand. Später rückte er, auch unter dem Einfluss seiner Labour-Ehefrau, weit in die politische Mitte. Für viele Tories ist ihr ehemaliges Parteimitglied heute ein verkappter Linker.
John Bercow tat in Zürich nichts, um diesen Eindruck zu widerlegen. So erzählte er, dass es bei seinem Amtsantritt im Palast von Westminster einen Schiessstand gegeben habe, aber keine Kinderkrippe. Heute sei es genau umgekehrt. Im Parlament gebe es eine umfassende Kinderbetreuung, der Schiessstand aber sei «mangels Nachfrage» geschlossen worden.
Als Speaker habe er dafür gesorgt, dass die Angestellten des Parlaments einen Lohn erhielten, der dem kostspieligen Londoner Lebensstandard entspreche. Auch habe er Frauen und Angehörige von Minderheiten in wichtige Positionen befördert. Womit er wohl die Vorwürfe zu kontern versuchte, er neige zu Wutausbrüchen, anzüglichen Bemerkungen und Mobbing.
Letzte Woche kündigte er an, auf den 31. Oktober als Speaker und Abgeordneter zurückzutreten. Die Reaktionen waren symptomatisch. Von den Oppositionsbänken zu seiner Linken erhielt er eine Standing Ovation. Auf Seiten der Regierung gab es bestenfalls höflichen Applaus, wenn überhaupt. Seine Zukunft liess er in Zürich offen. Einer Partei beitreten werde er aber kaum mehr.
John Bercows fulminanter und heftig applaudierter Auftritt in Zürich hat gezeigt, dass man ihn nicht nur wegen seines Showtalents vermissen wird. Vorerst reist er weiter an den Laver Cup nach Genf, wo der begeisterte Tennisspieler – er dachte angeblich einst über eine Profikarriere nach – seinem «grössten Sportidol überhaupt» zujubeln will: Roger Federer.
Peedy
winglet55