Michael Grove hat verschiedene Ministerposten in der britischen Regierung bekleidet. Er war auch eine führende Pro-Stimme im Kampf um den Brexit. Jetzt ist der ehemalige Hardliner nachdenklich geworden und unterstützt den sanften Ausstiegs-Plan seiner Premierministerin Theresa May.
Dabei argumentiert der aktuelle Umweltminister mit drastischen Vergleichen: Die Anhänger eines perfekten Brexit seien wie Ü50-Teilnehmer an einer Swingerparty, führte Grove an einer Kabinettssitzung aus. Sie hofften, dass Scarlett Johannson an der Party erschiene.
Nun, der Hollywood-Star ist erstaunlicherweise nicht gekommen und das Vereinigte Königreich befindet sich in der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Premierministerin May wird in wenigen Stunden eine katastrophale Niederlage erleiden. Es geht eigentlich nur noch darum, ob eine Mehrheit von bloss 60 oder rund 200 Abgeordneten ihren Ausstiegs-Plan verwerfen werden.
In der Stunde ihrer schmerzlichsten Niederlage kommt so etwas wie Mitleid mit der Premierministerin auf. Es ist völlig unangebracht. May hat sich selbst in diese missliche Lage gebracht. Ihr Geschwätz von «lieber keinen Deal als ein schlechter Deal»; ihr Hochmut, mit dem sie vorzeitige Wahlen anberaumt und katastrophal verloren hat; ihr Starrsinn, der nur auf Parteiinteressen Rücksicht genommen hat – all das hat sie in die Bredouille geführt.
Heute ist May politisch gesehen eine «dead woman walking», sie ist erledigt, was immer auch geschehen mag. Um den letzten Rest ihrer Ehre zu bewahren, muss sie jetzt endlich Staatsfrau sein und die Interessen ihres Landes vor Parteiinteressen und Starrsinn setzen.
Das kann nur bedeuten: Nach der Niederlage im Parlament muss May entweder die Anrufung des Artikels 50 und damit das Austrittsgesuch in Brüssel zurücknehmen. Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich bestätigt, dass dies möglich sei. Oder sie muss um eine Verlängerung der Laufzeit des Artikels 50 bitten.
Das bedeutet, dass das Vereinigte Königreich nicht am 29. März die EU verlassen wird, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Beides führt zwangsläufig zu einer neuen Volksabstimmung über den Brexit.
Natürlich wird dies zu einem Aufschrei im rechtskonservativen Lager führen. Ähnlich wie die Nazis in Deutschland nach dem Friedensvertrag von Versailles werden die Nationalisten um Nigel Farage eine Dolchstosslegende konstruieren, die einen «Verrat des Volkes durch eine Elite» postuliert. Tatsächlich ist ein zweites Referendum unschön, aber die Alternative ist noch hässlicher.
Die Brexit-Befürworter – tendenziell älter, männlich und in der Provinz lebend – berufen sich gerne auf den «spirit of Dunkirk». Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hat Churchill die britischen Truppen auf dem Festland in einer waghalsigen Aktion zurückgerufen und sie so vor der Vernichtung durch die Wehrmacht bewahrt. Bis heute gilt dies als Sternstunde in der britischen Geschichte.
Der Geist von Dünkirchen ist jedoch ein total idiotischer Vergleich. Das Vereinigte Königreich muss sich nicht gegen einen tollwütigen Diktator wie Hitler verteidigen und die EU-Beamten sind keine SS-Schergen. Die britische Wirtschaft ist vielmehr in ein komplexes Geflecht von sogenannten Wertschöpfungsketten eingebunden. Die EU ist dabei gleichzeitig ihr wichtigster Kunde und ihr wichtigster Lieferant.
Wird dieses Geflecht der Supply Chains bei einem ungeordneten Austritt zerrissen, droht ein Chaos mit unabsehbaren Konsequenzen. Das zeigt allein das banale Beispiel des Minis. Diese Ikone der englischen Autoindustrie gehört heute zur BMW-Gruppe. Bei der Fertigung überquert allein der Motor drei Mal den Ärmelkanal.
Wie ernst die Situation auf der Insel bei einem ungeordneten Austritt wird, zeigt die Tatsache, dass bereits jetzt Medikamente gehortet, Schiffe gemietet und mit Lastwagen endlose Staus simuliert werden.
Ein zweites Hirngespinst der Brexiter ist die Vorstellung eines «Global Britain». Anstatt mit dem alten Kontinent soll das Vereinigte Königreich künftig Handel mit Übersee treiben, will heissen: Die USA und Asien sollen die EU ersetzen. Was die USA betrifft: Wer sich auf das Wort von Donald Trump verlässt, dem hätte ich noch einen Gebrauchwagen zu verkaufen.
Ob China und Indien gegenüber ihrer ehemaligen Kolonialmacht wirklich herzliche Gefühle hegen, ist ebenfalls mehr als fragwürdig. Kurz: «Global Britain» ist ein Wahn in Köpfen, die wahrscheinlich schon heftig von Alzheimer geschädigt sein dürften.
Eine nochmalige Abstimmung würde bloss die eh schon miese Stimmung auf der Insel noch weiter verschlechtern, lautet ein oft gehörtes Argument gegen ein zweites Referendum. Das ist schlicht nicht mehr möglich. Mehr geteilt als heute kann das Vereinigte Königreich nicht mehr werden.
Es stimmt auch, dass keine grossen Verschiebungen zu erwarten sind. Die Positionen sind bezogen, auch wenn Meinungsumfragen ergeben, dass es heute eine leichte Mehrheit für einen Verbleib in der EU gibt.
Im Film «Groundhog Day» erlebt Bill Murray den Albtraum, dass er jeden Tag am gleichen Tag erwacht und so in einer endlosen Abfolge der gleichen Ereignisse lebt. In einer Art «Groundhog Day» befinden sich derzeit die Briten. Sie sind gefangen in einem Hamsterrad, das sich immer um die stets gleichen Fragen dreht.
Nur eine zweite Abstimmung kann sie daraus befreien. Die «Financial Times» kommentiert dazu: «Das [eine zweite Abstimmung] wird nicht die Abstimmung von 2016 entwerten. Das Resultat könnte das gleiche sein. Aber wenigstens wären die Wähler diesmal viel besser informiert, worüber sie abstimmen.»