Der G7-Gipfel in Biarritz hat keinen Durchbruch im Brexit -Streit gebracht. Er hat die Gespräche aber auch nicht endgültig kollabieren lassen. Er sei geringfügig optimistischer geworden, was die Chancen auf einen geordneten EU -Austritt angehe, erklärte Boris Johnson nach dem Gipfel. Derzeit gebe es aber noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit Brüssel.
Die Backstop-Regelung verhindert weiter eine Einigung zwischen den Briten und der EU. Bewegen sich beide Seiten nicht, wird ein Brexit ohne Ausstiegsvertrag immer wahrscheinlicher. Doch es gibt Alternativen.
Einen kleinen Erfolg scheint Boris Johnson mit seiner unnachgiebigen Haltung beim Backstop schon errungen zu haben. Sowohl nach dem Gespräch mit Angela Merkel als auch nach dem Austausch mit Donald Tusk auf dem G7-Gipfel, hiess es nicht: Das ist nicht zu machen, keine Chance. Sondern: Man sei bereit, weiter mit Johnson zu verhandeln – wenn er realistische Alternativen zur Backstop-Regelung vorlege.
Der gesamte Verlauf des Brexits hängt also an der Notfallregelung, die eine harte Grenze zwischen Nordirland, das mit Grossbritannien aus der EU aussteigen würde, und der Republik Irland, das in der EU bliebe, verhindern soll.
In der aufgeheizten Diskussion vergisst man oft: Der Backstop ist nur die Notlösung. Er tritt keineswegs sofort nach dem Brexit in Kraft, sondern nur dann, wenn sich die Briten und die EU in der knapp zweijährigen Übergangsphase nach dem Austritt auf keine verbindliche Lösung über ihre zukünftigen Beziehungen einigen.
Das Absurde an der Situation: Weder die EU noch Grossbritannien wollen eine harte Grenze auf der irischen Insel. Beiden Seiten ist bewusst, dass das zu einem Aufflammen der gewaltsamen Konflikte führen könnte.
Das Dilemma ist hoch kompliziert und enorm brisant. Erst 1998 gelang es nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg, die Lage auf der irischen Insel zu befrieden. Im Good Friday Agreement (Karfreitagsabkommen) wurden unter anderem ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit der Republik Irland und der Abbau aller Grenzanlagen ausgehandelt. Eine Abkehr von diesem Abkommen birgt unabsehbare Risiken.
Das ist allen beteiligten Parteien bewusst. Doch wie könnten alternative Lösungen aussehen?
Der einzige Vorschlag, den die Johnson-Regierung bisher vorgelegt hat, soll eine harte Grenze durch ein Paket von technologischen Massnahmen verhindern und zu einer elektronischen Abfertigung an der Grenze führen. Dazu gehören Kameraüberwachungen, eine Art freiwillige Selbstkontrolle und -verpflichtung von Händlern («trusted trader»-Programme), technische Überwachungen wie etwa die automatische Nummernschilderkennung und Gesichtserkennung sowie Stichprobenkontrollen – allerdings nicht direkt an, sondern in der Nähe der Grenze. So könnte anstelle einer harten Grenze eine «smart border» entstehen, argumentiert die Johnson-Regierung in einem mehrere hundert Seiten langen Expertenpapier.
Bisher hiess es dazu aus Brüssel nur: Das sei nicht realistisch und technisch nicht umsetzbar. Doch es scheint ein Umdenken oder zumindest eine Annäherung stattzufinden. Berichten zufolge denkt man in Brüssel nun doch intensiver über die Vorschläge nach – erwartet aber detaillierte Informationen und exaktere Verpflichtungen aus London, wie der Grenzverkehr geregelt werden kann.
Zeitlich scheint die Einrichtung einer «smart border» möglich. Britische Regierungsexperten gehen von rund 15 Monaten aus. Das wäre also noch innerhalb der Übergangsphase nach dem Brexit. Und: Eine «smart border» ist nichts komplett Neues. Die EU praktiziert Ähnliches bereits an anderen Aussengrenzen, zum Beispiel zwischen Schweden und Norwegen.
Ein weiterer Punkt könnte die «smart border»-Lösung als Alternative zum Backstop erleichtern. Die Formulierungen zum Backstop stehen im Ausstiegsvertrag in einem sogenannten Protokoll. Sollten sich EU und Grossbritannien wirklich auf diese Alternative zum Backstop einigen, könnte die EU argumentieren, dass man nicht das Ausstiegsabkommen an sich geöffnet habe – was die EU strikt ablehnt – sondern nur eine Art Zusatz dazu. Und Johnson hätte sein Versprechen wahr gemacht, dass es mit ihm nur einen Brexit ohne Backstop geben wird. Beide Seiten könnten so ihr Gesicht wahren.
Ob es zu dieser Einigung kommt, hängt in den nächsten Wochen vor allem von Grossbritannien ab. Londons Pläne und Garantien zu der mit dem Brexit neu entstehenden EU-Aussengrenze zwischen Nordirland und Irland müssen konkreter, überzeugender und glaubwürdiger werden. In der Folge müssten die Iren von einer derartigen Regelung überzeugt werden. Bisher ist vor allem in Dublin die Skepsis gegenüber einer «smart border» extrem gross.
Die EU wird gleichzeitig auch die innenpolitischen Entwicklungen in Grossbritannien intensiv beobachten. Es ist so gut wie sicher, dass sich Johnson einem Misstrauensvotum stellen muss. Der Ausgang ist wieder offener – vor allem deshalb, weil Oppositionsführer Jeremy Corbyn sich mit der Abstimmung als Übergangspremierminister einsetzen lassen will. Eine Vorstellung, die für viele konservative Abgeordnete, die zwar gegen einen No-Deal-Brexit, aber noch viel intensiver gegen Corbyn sind, ein Albtraum ist.
Dazu kommt, dass viele konservative Abgeordnete ihre Partei durch Johnson im Aufwind sehen. Während Theresa May versucht hat, Brexiteers und gemässigte Brexit-Befürworter gleichermassen zufriedenzustellen – und daran gescheitert ist –, verfolgt Johnson zumindest einen klaren Kurs. Einige Tory-Politiker könnten sich daher noch einmal überlegen, ob sie in einem Misstrauensvotum tatsächlich gegen ihren eigenen Premierminister stimmen und ihn so stürzen wollen.
Darüber, ob das Parlament einen No-Deal-Brexit per Gesetz verbieten kann, ist gerade eine heftige Kontroverse in Grossbritannien entbrannt. Im Kern geht es darum, wer die Politik im Land bestimmt: der Premierminister mit seiner Regierung oder das Parlament – Ausgang offen.
Auch auf eine grundsätzliche Politikänderung durch Neuwahlen sollte die EU besser nicht setzen. Es ist derzeit vollkommen unklar, ob Neuwahlen für andere Mehrheitsverhältnisse im britischen Parlament sorgen würden. Unter Johnson stiegen die Werte der Torys in Umfragen von 25 auf zuletzt 33 Prozent. Labour dagegen verlor von zwischenzeitlich 30 auf derzeit 26 Prozent.
Am Ende könnte also die «smart border» der beste Ausweg aus einem No-Deal-Albtraum sein. Damit dieser Vorschlag Erfolg hat, müssen beide Seiten in den nächsten Wochen schnell und vor allem vertrauensvoll miteinander verhandeln. Johnson hat seinen Brexit-Chefunterhändler David Frost in dieser Woche zur EU geschickt. Es sieht also so aus, als komme etwas Bewegung in das festgefahrene Brexit-Drama.
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