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Als ich ein Frühteenager war, ging ein Lieblingsspiel unter Freundinnen so: Wir standen zu dritt an einem verwunschenen Weiher im Wald und malten uns aus, wie wir als Wasserleichen aussehen würden. Sehr, sehr schön. Bleich, im Wasser schwebendes Haar. Im Wasser schwebende Prinzessinnenkleider. Der Grund des Weihers ganz aus Kristall oder Rosen. An den Füssen selbstverständlich Ballettschuhe. Ein Bild wie aus einer Mangamädchen-Fantasie, ausser, dass wir damals Manga nicht kannten. Höchstens als «Heidi».
Als ich ein Teenager und sowieso sehr oft traurig war, ging eine meiner Lieblingsbeschäftigungen so: Ich sass allein im Zimmer, zog die Vorhänge zu und meditierte über Selbstmord. Stunden-, tagelang. Über Todesarten. Erhängen. Die Pulsadern aufschneiden. Tabletten schlucken. Ich sammelte Tabletten – und vergass sie, bis zu dem Tag, als sie meiner erschreckten Mutter in die Hände fielen. Ich ritzte mir genau ein einziges Mal ganz leicht das Handgelenk – und entschuldigte jeden weiteren Versuch mit meiner Wehleidigkeit. Es war ein makabres Spiel, aber ein Spiel.
Ich würde meinen, ich war ein ganz normaler Teenager.
Und ich bin froh, dass es zu meiner wirrsten Zeit im Leben noch kein Internet
gab. Zu jener Zeit, da alles auf mich einstürmte: Begehren, Liebe,
Zukunftsängste, überhaupt die ganze Metamorphose von einem Kind zu einem
irgendwann mal erwachsenen Menschen. All die hormonell induzierten Glücks- und
Verzweiflungsschübe, die Identitätsverschiebungen. Die Zeit, die über junge
Menschen geht wie ein anhaltender Sturm, gegen den sich keiner wehren kann. Die
Zeit der Träume, der Tränen und der traurigen Musik.
Hätte es zu meiner Zeit das Internet im Alltag schon gegeben, ich wäre eins der schwer depressiven Hashtag-Mädchen geworden und wäre vollkommen versackt. #depressive, #suicide, #sad. Auf Instagram gehen ihre Beiträge in die Millionen. 4,6 Millionen verstecken sich unter #suicide, 4,3 Millionen unter #depressed, 5,7 Millionen unter #cut, 7,6 Millionen unter #depression, über 16 Millionen unter #sad.
Traurige Bilder von qualvoll geritzten Körperteilen finden sich da – Arme, Oberschenkel, Rücken. «My battlescars», meine Kriegsverletzungen, nennen die jungen Selbstverletzer das. Klickt man auf einen der Hashtags, warnt Instagram: «These posts may contain graphic content.» Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO verletzt sich heute jeder fünfte (britische) Teenager selbst. Schneidet, verbrennt oder beisst sich mit Absicht. Magersucht wird nicht zu den Selbstverletzungen gezählt, geht aber oft damit einher.
Wem die Qual auf Instagram nicht tief genug geht, sucht auf Tumblr weiter, sagen die Betroffenen. Sie seien dort unter sich. «Alles okay? Bei Krisensituationen aller Art hat die Telefonseelsorge immer ein offenes Ohr», teilt mir Tumblr mit, als ich «depression» eingebe.
Ich klicke die Suchresultate an. Die User nennen sich «masochistic-sociopath», «red-paintedwrists», «unspokendarknessinside», «kill-me-softly-please», «depresseddarkdoll», «br-o-ken-poetry», «myblissfulsuicide». Alle fühlen sich allein, viele sind unglücklich verliebt, ausgesetzt auf dem Scherbenhaufen des Herzens, wo sie wie einsame Hunde nach einem kleinen Rest von sich selbst suchen. Sie glauben alle nicht an Heilung, sie wünschen sich, tot zu sein. Dies ist kein Traum, dies ist ein Alptraum.
Bei einigen Beiträgen wurde sehr oft das magische «Mag ich»-Herzchen angeklickt. Bei einigen oft. Bei andern fast nie. Wie schlecht fühlen sich wohl die schlechter Gemochten? Der blinkende Aufschrei «I wish I was dead» wurde 229 Mal gemocht. Das Bild eines frisch mit fünfzig Schnitten malträtierten, noch blutenden Arms bloss 15 Mal. Wie brutal muss das sein? Man schreit nach der Teilnahme von Tausenden, doch es reagieren nur fünfzehn?
Es ist das Gegenteil von Cyberbullying. Es handelt sich vielmehr um eine Form von Cyberneglect. Vernachlässigung. Geshartes Leid ist niemals halbes, sondern potenziertes Leid.
Help Lines bieten auf Seiten, die besonders schwarze Löcher für geplagte Seelen darstellen, besonders eifrig ihre Dienste an. Und in England, das wegen seiner traurigen Kinder gerade besonders besorgt ist, stiegen die Kontaktnahmen mit den Help Lines dank sozialer Medienpräsenz in den letzten zwei Jahren um zweihundert Prozent.
Traurig sein tut gut. Besonders in den Jahren der grösstmöglichen Verunsicherung. Melancholie muss man auskosten. Es gehört dazu. Aber zwischendurch muss man die Welt mit den doppelten Kreuzen vor den Worten verlassen, die Vorhänge öffnen, und auf der nächsten Party sich selbst und allen Kummer vergessen. Auch das gehört dazu.