Liebe Leserin, lieber Leser
Ich schreibe dir von den Nesseln aus – von den Nesseln, in die ich mich ab jenem Zeitpunkt gesetzt habe, als ich mich dazu bereit erklärt habe, mir den Dokumentarfilm objektiv anzusehen, um zu eruieren, was daran so speziell ist.
Vergiss bitte nicht, dass es hier nicht um ein Urteil, nicht um Recht und Unrecht geht, sondern darum, wieso dieser Film bei seiner Premiere am Sundance-Filmfestival für Furore gesorgt hat (und vermutlich auch zukünftig für Furore sorgen wird).
Es handelt sich um zwei Episoden à je zwei Stunden.
Im Zentrum stehen die beiden mutmasslichen Opfer Wade Robson und James Safechuck, die in Interviews erzählen, wie sie Michael Jackson kennengelernt, eine enge emotionale Bindung zu ihm aufgebaut und schliesslich sexuellen Kontakt mit ihm gehabt haben. Ebenfalls zu Wort kommen die jeweiligen Mütter der Männer, Familienmitglieder und im zweiten Teil auch die Ehepartner.
Robson lernt Jacko durch ein Meet and Greet kennen, Safechuck durch einen Pepsi-Werbespot. Von da an geht es beinahe deckungsgleich weiter, auch wenn sich die Geschichten nie kreuzen: Jacko sucht den Kontakt zu den Jungs, bandelt mit ihren Familien an, verbringt Abende bei ihnen zuhause, schafft Nähe und Vertrauen, nimmt sie alle mit auf Tour, quartiert sie wochenlang kostenlos auf der «Neverland Ranch» ein.
Er wird für die Jungen zum besten Freund, zum Vaterersatz, zur grossen Liebe.
Augenscheinlich ruhig und sachlich schildern sie in einer verstörenden Detailtreue, wie die sexuellen Kontakte vonstattengingen, erzählen weitere Anekdoten, immer wieder durchsetzt von intimen Archivaufnahmen aus Privatbesitz.
Das ist eine verheissungsvolle Grundvoraussetzung für einen Dokumentarfilm über Michael Jackson.
Der Film kreiert ein eigenes Momentum. Ein sehr starkes Momentum sogar. Denn beide Männer werden in ihren Schilderungen nie abwertend, nie diffamierend und nie wütend. Sie zeichnen in aller Ruhe jedes Detail des emotionalen Bindungsprozesses nach, den sie erschreckend gut nachvollziehbar darlegen, anstatt diesen zu leugnen. Die damals gefühlte Dankbarkeit scheint die heutige Argwohn zu überwiegen.
Und die sexuelle Beziehung zu ihm nahmen somit beide als Bekundung ihrer Liebe für Michael Jackson wahr – natürlich auch, weil Jackson ihnen dies so verkaufte. Sie zeigen nicht mit dem Finger auf ein gestörtes Monster, sie erzählen eine unmoralische, ja, kranke, auf Gegenseitigkeit beruhende Liebesgeschichte. Das birgt Faszination und schürt Unbehagen. Eine unbequeme Gefühlsmengung.
Die Sachlichkeit der Erzählweise – der Verzicht auf emotionsüberquellende Musik, die Absenz von unkontrollierten Tränenergüssen, das nüchterne Eingestehen eigenen Fehlverhaltens – tut ihr Übriges. Es reden Opfer, die die Opferrolle entschieden negieren.
So erzählt James Safechuck besipielsweise, dass Michael und er einst vor dem Fernseher eingeschlafen sind und als er aufwachte, war Michael weg. Safechuck war schwer enttäuscht und bat Jackson daraufhin, nicht mehr weg zu gehen, sondern die Nacht bei ihm zu verbringen.
Diese verquere Mischung von Stilelementen und Gesagtem führt zu einer unheimlichen Erfahrung. Denn als die Männer ihre damalige, tiefe Enttäuschung darüber schildern, wie sie jeweils nach ein paar Jahren von einem jüngeren «neuen besten Freund von Jacko» abgelöst werden, nicht mehr bei ihm im Bett schlafen dürfen, er ihnen die Liebe, die Aufmerksamkeit entzieht, sie auf Distanz hält, droht man Mitleid für die Jungen zu verspüren.
Diese komplexe, entwaffnende Art des dokumentarischen Erzählens fordert in ihrer Gesamtheit spürbar ihren emotionalen Tribut beim Zuschauer.
Beide Mütter beteuern immer wieder, dass sie anfangs starke Ressentiments hatten, wenn es darum ging, ihre damals sieben- und neunjährigen Söhne im selben Zimmer wie Jackson übernachten zu lassen. Doch beide liessen sich, mitunter auf inständiges Bitten und Drängen ihrer Söhne hin, erweichen, dies zu erlauben.
Sie waren auch treibende Kraft, wenn es anfangs darum ging, den «King of Pop» kennen zu lernen.
Geblendet von «Jackos Starpower» sahen sie auch darüber hinweg, dass die Eltern-Suiten bei jedem Aufenthalt immer weiter weg von Jacksons Suite gebucht oder dass die Kinder im Haupthaus in Neverland einquartiert wurden, während sie im Gasthaus untergebracht wurden.
Immer wieder suggerieren sie, von Jacko manipuliert worden zu sein. Dies in einer unterschwellig vorwurfsvollen Tonalität, ohne jedoch konkrete Schuldzuweisungen zu äussern. Der Kern das Problems, das sehen beide trotz allem ein, waren sie.
Vom Missbrauch erfuhren sie beide erst Jahre später, nachdem sie Jackson bereits öffentlich verteidigt hatten, als er von anderen Jungen angeklagt worden war. Und während die Mutter von Safechuck den Tod Jacksons bejubelte, versuchte die Mutter von Robson (die ihren Mann verliess und mit den Kindern von Australien nach Amerika zu Michael Jackson auswandern wollte) sein abscheuliches Verhalten reflektiert damit zu erklären, dass er ein kranker Mensch war.
Nein. Und da liegt die Krux, der sich der Zuschauer dringlichst bewusst sein muss. So überzeugend eine Dokumentation ist, einige Grundprinzipien dürfen nie vergessen werden.
Eine Dokumentation ist immer eine sehr selektiv konstruierte Repräsentation der Realität. Die Entscheidung, was gezeigt wird, ist die eine. Die Entscheidung, was nicht gezeigt wird, ist die weitaus grössere. Rational betrachtet handelt es sich in diesem Falle um Anschuldigungen gegen eine verstorbene Person, die sich weder wehren noch Anschuldigungen widerlegen kann.
Es soll einer Dokumentation durchaus erlaubt sein, nur die Opferseite zu thematisieren. Nur muss sich der Zuschauer dessen bewusst sein. Ein Dokumentarfilm soll stets ein Plädoyer und kein Urteil sein. In anderen Worten: So erdrückend die Faktenlage auch scheint, es bleibt eine ausgewählte Darstellung, bestehend aus Zeugenaussagen. Bear that in mind.
Beide Opfer schildern, wie Jacko sie behutsam indoktriniert hat.
Diese Indoktrination schmiedete, gemeinsam mit der tiefen Liebe der Jungen für Michael Jackson, einen dicken Gürtel des Schweigens um die dunklen Geheimnisse. Dies reichte gar so weit, dass beide sich dazu bereit erklärten, Jackson öffentlich zu verteidigen, als 1993 erste Anklagen wegen Kindsmissbrauch öffentlich wurden. Dieser Prozess wurde aussergerichtlich geklärt.
Wade Robson sagte bei der zweiten Anklage gar vor Gericht als Hauptzeuge der Verteidigung für Jackson aus. Eine Lüge, wie er heute beteuert.
Beide schildern in den Interviews die tiefen, psychischen Narben, die Jacko hinterlassen hat. Von Alkoholsucht über Alkoholmissbrauch und das drohende Scheitern ihrer Ehen bis hin zu suizidalen Gedanken. Erstmals wirken sie im Interview emotional so richtig mitgerissen.
Als Robson dann 2013 in einer US-Talkshow gestand, vor Gericht für Jackson gelogen zu haben, merkt Safechuck, dass er nicht alleine ist. Er fasst erst dann den Mut, mit seiner Familie darüber zu sprechen.
Nach vierstündiger Dauerbestrahlung ist es für den Zuschauer einigermassen nachvollziehbar, wieso sie ihr Schweigen so lange nicht gebrochen haben.
Wieso Wade Robson 2013 dann den verstorbenen Michael Jackson auf Schmerzensgeld verklagt, wenn sie beide stets beteuern, dass es ihnen nur um die Wahrheit geht, bleibt unklar und wird nur kurz angeschnitten. Ein schaler Abschluss.
Wenn die Rede davon ist, dass bei der Premiere am Sundance-Filmfestival Psychologen im Foyer bereitgestellt werden mussten, um die verstörten Zuschauer zu betreuen, dann ist das schwer nachvollziehbar.
Es ist eine aussergewöhnliche, sehenswerte, anspruchsvolle Dokumentation, ohne Frage. Und ja, nach vier Stunden intensiver Darlegung zweier Seelenleben ist man am Ende. Ebenso klar, dass es entsetzlich ist, wenn Männer in beinahe medizinischer Akribie ihren Missbrauch im Kindesalter und dessen Konsequenzen beschreiben.
Hier eine Auswahl an Zitaten:
Es wirft auch die womöglich unangenehme Frage auf, wieso es für die Weltöffentlichkeit stets normal war, Jackson Hand in Hand mit einem fremden Kind zu sehen.
Dennoch erlaubt die Machart des Films dem Zuschauer genügend Platz, sich ein eigenes Bild der Umstände zu machen. Es ist kein gezieltes, filmisches Manipulieren, das zu erwarten gewesen wäre, kein Monster-Porträt, keine Litanei der Unschuld. Es ist verstörendes Rohmaterial. Doch der Zuschauer selbst kann entscheiden, was er damit anfangen will.
Egal, wie ihr zu Michael Jackson und den Missbrauchsvorwürfen steht: Es wird verlangt, dass die Diskussionen in der Kommentarspalte sachlich und respektvoll vonstattengehen.