Leben
Review

«The Boy and the Heron»: Hayao Miyazakis neues Meisterwerk ist grandios

the boy and the heron
Dieser zwölfte Film von Hayao Miyazaki ist ein wahres Bündel von allem, was seine Werke ausmacht.Bild: studio ghibli
Review

Der König des japanischen Animationsfilms kehrt mit einem Meisterwerk zurück

Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt Hayao Miyazaki mit einem faszinierenden Film über Trauer und das Ende der Kindheit zurück, der mit einem japanischen Stil des Mystizismus gefärbt ist.
05.11.2023, 20:0206.11.2023, 14:19
Sainath Bovay / watson.ch/fr
Mehr «Leben»

Ein Jahrzehnt ist es her, dass «Wie der Wind sich hebt», der letzte Film von Hayao Miyazaki, herauskam. Es war der Höhepunkt eines Genies des Animationsfilms. Der 82-Jährige scheint aber nicht gewillt zu sein, sich zur Ruhe zu setzen. Er gründete 1985 mit drei anderen Animatoren das Studio Ghibli und ist im Laufe der Zeit zu einem Meister geworden. Seine Verehrung grenzt in Japan schon fast an das Göttliche.

Miyazakis Werke glänzen irgendwo zwischen dem Wunderbaren von Walt Disney und dem Anspruch von Stanley Kubrick. So schaffte es «The Boy and the Heron» (Originaltitel: «Kimitachi wa Dō Ikiru ka») bei seinem Kinostart im Juli, in Japan die Kinos zu füllen, ohne dass jegliche Werbung gemacht wurde. Es wurde lediglich ein rätselhaftes Poster aufgehängt.

Der Film basiert auf einem Klassiker der japanischen Literatur aus dem Jahre 1937 «How do you live?» vom japanischen Schriftsteller Genzaburō Yoshino. Das Drehbuch hat Miyazaki selbst geschrieben und führt uns, wie auch sein vorheriger Film «Wie der Wind sich hebt», in die 1930er-Jahre zurück. Doch was sich zuerst als historischer Film präsentiert, schlägt schnell in Fantasy um und tritt somit in die Fussstapfen von Chihiros Reise aus dem Jahr 2001.

Trailer:

Die Geschichte spielt während des Zweiten Weltkriegs und folgt Mahito, einem elfjährigen Jungen. Dessen Kindheit ist durch den Verlust seiner Mutter geprägt, die nach einem Bombenangriff in Tokio ums Leben kam. Nach diesem tragischen Vorfall findet er sich mit seinem Vater auf dem Land wieder, wo seine Mutter aufgewachsen war. Da sein Vater inzwischen wieder verheiratet ist, versucht Mahito, sich an sein neues Leben mit seiner Stiefmutter und sechs älteren Mägden zu gewöhnen.

Inmitten dieses riesigen Landguts trifft Mahito auf einen seltsamen Graureiher, der ihn bis in sein Zimmer verfolgt. Als er den Vogel berührt, entdeckt der Junge eine seltsame Welt um ihn herum, denn wie Alice im Wunderland erwartet ihn eine schillernde Reise. Diese Reise beginnt, als seine Stiefmutter in den Tiefen des Waldes verschwindet. Mahito ist fest entschlossen, sie zu retten.

Der König und der Vogel

Dein Therapeut wird dir sagen, dass ein bisschen Kind in jedem von uns steckt, selbst wenn wir 82 Jahre alt sind. So bietet uns Hayao Miyazaki erneut einen Einblick in sein schillerndes und jung gebliebenes Gehirn, wo sich Erinnerungen mit Folklore vermischen.

the boy and the heron
Der Junge und der Reiher, wortwörtlich.Bild: studio ghibli

Jede Szene ist wie ein Gemälde, das sich auf die vielen Dinge bezieht, die den Autor faszinieren. Jedes Element wird mit leuchtender Vitalität zum Leben erweckt. Die Welten, die Miyazakis Fantasie entspringen, bestehen aus Geistern, Gestaltwandlern, anthropomorphen Tieren und kleinen Kreaturen, die ebenso bizarr wie liebenswert sind. Die Unschuld der Kindheit, die Faszination für das Fliegende, die europäische Kultur, der Schrecken des Krieges und die Mutterbindung sind Themen, die im Werk des japanischen Regisseurs buchstäblich herumgeistern. «The Boy and the Heron» ist eine flammende und zärtliche Zusammenfassung seiner bisherigen Werke.

Miyazakis Filme können von bemerkenswerter kindlicher Einfachheit sein, wie «Mein Nachbar Totoro» (1988), «Kikis kleiner Lieferservice» (1989) oder «Ponyo – Das grosse Abenteuer am Meer» (2008). Der Regisseur hat sich aber auch an weitaus reifere Werke mit philosophischer Bedeutung gewagt, wie «Prinzessin Mononoke» (1997) oder «Nausicaä aus dem Tal der Winde» (1984). Trotz des kindlichen Aussehens, das natürlich den Jüngsten gefallen wird, ist «The Boy and the Heron» ein weitaus komplexeres Werk, als es den Anschein hat.

In diesem philosophischen Märchen lässt uns Miyazaki in seinem zwölften Spielfilm in eine Natur eintauchen, die den Zuschauer dazu einlädt, über seine Wahrnehmung hinaus zu reisen. Der Vogel ist den ganzen Film über präsent und drückt das tierische Gedankengut aus, von dem der Film getragen wird. So zum Beispiel weicht die Anmut des Graureihers, wenn er eine menschliche Gestalt annimmt.

Trauer und Kindheit

Wie bei Miyazaki üblich, wird das japanische Kulturerbe mit westlichen Referenzen verwoben. So könnte diese japanische Landschaft geradeso gut unsere sein.

THE BOY AND THE HERON
Die Frauen stehen im Mittelpunkt der Erzählung.Bild: STUDIO GHIBLI

Wie Alice, die dem weissen Kaninchen ins Wunderland folgt, entdeckt Mahito eine Welt – die Welt der Toten, der Geister oder seine innere Welt. Der Film drückt dies nie explizit aus, wahrscheinlich, um dem Zuschauer die Interpretation zu überlassen. Der Film ist von zahlreichen Anspielungen durchzogen, die dazu einladen, loszulassen und sich treiben zu lassen, und uns das Gefühl geben, Zuschauer eines Traums zu sein.

Der Film zeigt anhand des Verlustes der Mutter den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden. Wie jedes gute Märchen ist Mahitos Abenteuer von Mutproben, mutigen Taten und zahlreichen neuen Bekanntschaften geprägt.

Der Film dreht sich um die Mutterfigur, die als gütig und mutig erscheint und damit beschäftigt ist, die Welt zusammenzuhalten. Die männlichen Figuren sind überwiegend Vögel, die als grotesk und verspielt wie der Reiher erscheinen, in Form von menschenähnlichen Wellensittichen, die unter dem Befehl eines eitlen Königs gedankenlos handeln und Pelikanen, die aufgrund der Erschöpfung ihrer Ressourcen degeneriert sind.

Ein visuelles Wunder

Was seine künstlerische Umsetzung betrifft, bleibt «The Boy and the Heron» dem Stil des Meisters treu und ist die Garantie für eine Form des handwerklichen Kinos, die leider schwindet. Die Animationen sind alle handgezeichnet, das Studio hat mehrere Jahre daran gearbeitet.

the boy and the heron
Der Film hält eine ganze Reihe von niedlichen Kreaturen bereit.Bild: studio ghibli

Das Ergebnis ist atemberaubend, mit Zeichnungen von uhrmacherischer Präzision, einer dynamischen Animation, die bis ins kleinste Detail prachtvoll ist, wie das hohe Gras, das sich im Wind bewegt und bei dem jeder Zweig unabhängig animiert zu sein scheint. Das Ganze wird natürlich von der Musik von Miyazakis Lieblingskomponisten Joe Hisaishi untermalt, der bei seinen Filmen immer mit dabei ist.

Inmitten dieses Festes von Abenteuern, das manchmal fast schon schwindelig macht, bedeutet das vom Zuschauer verlangte Loslassen auch eine Loslösung von den Emotionen. Trotz seiner Aufforderung, den Tod und die Veränderung zu akzeptieren, hat «The Boy and the Heron» nicht die emotionale Kraft von «Chihiros Reise ins Wunderland» oder eine starke Botschaft wie «Prinzessin Mononoke» zu vermitteln. Dennoch bleibt er eine fabelhafte Reise, die nur darauf wartet, erneut geschaut zu werden, um all ihre Nuancen zu verstehen.

Trotz seines hohen Alters beweist der Regisseur mit diesem neuen, vollkommen meisterhaften Film, wie kreativ und zeitgemäss er noch immer ist. Wie der 85-jährige Martin Scorsese mit «Killers of The Flower Moon», der gerade in den Kinos läuft, ist Hayao Miyazaki der Beweis dafür, dass es kein Alter gibt, um das Zeug zum «Heron» zu haben.

«The Boy and the Heron» läuft in der Deutschschweiz ab dem 23. November im Kino und dauert rund zwei Stunden.

Mehr zu Filme und Serien:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Wespen! Wespen überall! Sogar in Hollywood 😉
1 / 13
Wespen! Wespen überall! Sogar in Hollywood 😉
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Mangafigur tourt durch Europa
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
11 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Hyra
05.11.2023 20:44registriert Oktober 2021
Jeder Film ist ein Meisterwerk!
651
Melden
Zum Kommentar
avatar
Ciri
05.11.2023 20:51registriert Januar 2015
Hayao ist ein Meister seines Faches. Ich freue mich!
511
Melden
Zum Kommentar
avatar
Gina3
05.11.2023 21:34registriert September 2023
Beeindruckend: alles handgezeichnet in einem kleinen Team! Die Magie eines großen Meisters, der sein Handwerk gut beherrscht und die künstliche Intelligenz Neulingen überlässt, die keinen Bleistift mehr halten können.
414
Melden
Zum Kommentar
11
Für Alessio sind Frauen über 30 «alte Pfannen». Und: Knusprige Callboy-Geständnisse!
In Folge vier begegnen wir allem, was wir nicht wissen wollten. Oder zumindest vielem. Was wir wirklich nicht wissen wollten.

Als ich mir heute in der Migros Mittagessen holte, fragte ich mich, welches von den vielen jungen Wesen, die mit mir in der Hungerschlange standen und mit klaren, glänzenden Augen in Richtung Zukunft schauten, wohl schon den Gedanken gehegt hatte, bei «Bachelor» oder «Bachelorette» oder «Jung, sexy, nicht ganz dicht» oder «Planet Saufen» mitzumachen. Vermutlich keines. Hoffte ich jedenfalls.

Zur Story