Was im Klassenzimmer beginnt, kann eine unheilvolle Dynamik annehmen. So ist das im Jugendroman «Die Welle» von Morton Rhue aus dem Jahr 1981. Kaum eine Klasse hat ihn nicht gelesen, zeigt er doch eindrücklich, wie schnell aus kritischen Menschen faschistische Wesen werden, wenn sie sich in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen. Dies führt ein Lehrer seinen Schülern schmerzhaft in einem Experiment vor Augen – das erst gestoppt wird, als ein jüdischer Schüler Gewalt erfährt.
Die deutsche Netflix-Serie «Wir sind die Welle» nimmt diesen Stoff auf. Ausgangspunkt ist aber nicht ein Lehrer, sondern ein neuer Mitschüler. Tristan (Ludwig Simon) betritt in Jogginghose, Plastikzasche und Kapuzenpulli den Raum.
Er kennt sich nicht nur mit dem Algerienkrieg aus, spricht Arabisch und hat linksideologische Überzeugungen, sondern lebt sie auch («Ich war im schwarzen Block in Hamburg mit dabei, selbst die Bullen hatten Schiss vor uns.») und kann seine Mitschüler dafür begeistern.
Bald bildet sich um ihn eine Gruppe, die mit radikalen Aktionen gegen die Umweltsünden der Grosskonzerne, SUV-Fahrer, Plastik-Konsumenten und die Praktiken der Schlachthöfe vorgeht. Auf den iPhones im Pausenhof gehen die Videos der maskierten Ökorebellen viral.
Die deutsche Serie des US-Streamingriesen dreht den Ursprungsstoff ins Linksextreme, spinnt radikale Tendenzen, wie man sie in der Umweltbewegung «Extinction Rebellion» sieht, weiter und fordert damit die Generation-Greta heraus. Das gefällt nicht allen.
«Die Zeit» kann mit diesem neuen Twist nichts anfangen, hält ihn für «schlechtes Timing», beklagt mangelndes «Fingerspitzengefühl». Der Autor hätte sich stattdessen eine Serie über «die jugendliche Radikalisierung nach rechts» gewünscht.
Dabei ist dieser neue Dreh das Spannendste an der Serie. Schliesslich wird mit dieser Neuinterpretation deutlich, dass sich jede Ideologie zum Extremismus steigern kann.
Wie weit darf man gehen für seine Anliegen? Diese Frage stellen sich nicht nur die Jugendlichen in der Serie, sondern auch die Zuschauer. Denn mit einigen der Überzeugungen der Gruppe kann man durchaus Sympathien haben.
Über weite Strecken ist «Wir sind die Welle» aber allzu belangloses Jugendfernsehen über den Wert der Freundschaft, Ausgrenzung und die Liebe. Das wird zwar packend inszeniert, aber auch mit ganz schön viel Pathos vorgetragen.
Streaming-Serie: «Wir sind die Welle»
6 Episoden à 50 Minuten auf Netflix
(aargauerzeitung.ch)