Zwei Tage lang ist Nina Hart Gary auf der Welt, vom 23. bis zum 25. August 1970, dann ist ihr kleines Leben auch schon wieder vorbei. Und als wäre dies nicht traurig genug, muss ihr Sarg noch einmal geöffnet werden. 150 Fotografen lichten die Babyleiche ab. Um genau eines zu beweisen: Nina Hart Gary ist weiss. Sie ist nicht das Kind der amerikanischen Schauspielerin Jean Seberg und des Black-Panther-Aktivisten Hakim Jamal. Auch wenn die Zeitschrift «Newsweek» dies monatelang behauptete. Das Gerücht über Jamals angebliche Vaterschaft war vom FBI gestreut worden.
Seberg sagte, der Vater ihrer Tochter sei ein blutjunger mexikanischer Revolutionär gewesen, den sie bei Dreharbeiten in Mexiko kennen gelernt hätte. Vor dem Studenten, also 1969, war sie tatsächlich mit Jamal zusammen. Eine Zeit, die ihr Leben in eine Abwärtsspirale aus Verleumdung und Verfolgung schickte.
Ihr französischer Gatte, der Ex-Résistance-Kämpfer und Schriftsteller Romain Gary, reiste 1969 nach Amerika, um sich mit Eastwood zu duellieren. Dazu kam es allerdings nicht, denn Eastwood, der dafür berühmt war, mit jeder seiner Filmpartnerinnen zu schlafen, wollte auch von Seberg nicht mehr als eine kurze Affäre.
Die Geschichte von Jean Seberg und dem FBI ist die einer kleinteiligen, gründlichen Zermürbung, einer jahrelangen Auslöschung, die im August 1979 mit dem vermutlichen Suizid der erst 40-Jährigen endet. Sie wird da seit zehn Tagen vermisst, dann findet man ihre sich zersetzende Leiche in ihrem weissen Renault 5 in Paris, das zu ihrer eigentlichen Heimat geworden ist. Als Todesursache wird ein Cocktail aus Whisky und Schlaftabletten angegeben.
Der Regisseur Otto Preminger macht sie zu seiner Jeanne d'Arc in «Saint Joan». Und weil Hollywood damals noch nicht gross mit Special Effects arbeitet, wird der Scheiterhaufen, auf dem Jeanne verbrannt wird, eben richtig in Brand gesetzt. Und mit ihm Jean Seberg.
Ein traumatischer Moment. Den Preminger wiedergutzumachen versucht, indem er sie kurz darauf in der Verfilmung des französischen Sommerferien-Psycho-Bestsellers «Bonjour Tristesse» als intriganten Teenager besetzt. Sie spielt da an der Seite von Deborah Kerr und David Niven. Von heute aus ein entzückender Film. Damals wie auch «Saint Joan» ein Flop.
Danach flieht Seberg mit ihrem ersten Mann, einem französischen Anwalt, nach Frankreich. Und wird durch Jean-Luc Godard in «A bout de souffle» zum Supersuperstar der französischen Nouvelle Vague. Spielt an der Seite von Jean-Paul Belmondo eine junge Amerikanerin in Paris. Macht die Welt mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt verrückt. Dreht fast zehn Jahre lang nur in Frankreich. Ist das Gesicht des französischen Kinos schlechthin.
Schliesslich versucht sie einen Neustart in Hollywood, kommt mit ihrer ganzen europäisch-intellektuell sozialisierten Weltsicht nach L.A. und gerät mitten hinein in die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung. Sie unterstützt die Black Panther Party grosszügig mit Geld, wird schnell vom FBI überwacht, gilt als Kommunistin. Auch Jamals Familie wird derart bedroht, dass Seberg in ihrem Haus in Coldwater Canyon allen Unterschlupf gewährt und die Fenster mit Karton vor den nimmermüden Kameras von FBI und Presse verschliesst.
Sebergs Ruf und Einfluss, so besagen später gefundene FBI-Akten, sollen gründlich zerstört werden. Das FBI fädelt mediale Schmutzkampagnen gegen sie und schliesslich ihr ungeborenes Kind ein, lässt obszöne Karikaturen in Umlauf bringen und bringt jeden Winkel ihres Privatlebens in seinen Besitz. Ohne ihr je direkt zu begegnen. Sie kämpft gegen ein Phantom und zerbricht daran. Es ist ein Exempel in Gaslighting – die Technik, jemanden durch sture Behauptung inexistenter Tatsachen in den Wahnsinn zu treiben – und in der mittlerweile überzitierten Cancel Culture.
Joe Schrapnel, der Enkel von Deborah Kerr, mit der Jean Seberg 1958 «Bonjour Tristesse» drehte, schrieb mit seiner Frau Anna Waterhouse zusammen ein Drehbuch über Sebergs fatalen Monate von 1969 und 1970. Regisseur Benedict Andrews hat daraus 2019 den Film «Jean Seberg – Against All Enemies» gemacht. Weniges – etwa die Affäre mit Eastwood und die Einquartierung von Jamals Familie – wurde dabei wohl aus Gründen der schieren dramaturgischen Überfrachtung weggelassen. Dafür wurde ein Agent mit Gewissen dazu erfunden.
Doch das Wichtigste, nämlich die gespenstischen Operationen des FBI, die unter das von 1956 bis 1971 aktive Geheimprogramm COINTELPRO fielen, entsprechen dem Protokoll. COINTELPRO stand für Counterintelligence Program und hatte die Destabilisierung politisch tätiger Gruppierungen und Privatpersonen zum Ziel.
Gespielt wird Jean Seberg von Kristen Stewart, was einerseits stimmig ist, weil Stewart wie Seberg ins französische Exil ging, wo sie mit Olivier Assayas Arthouse-Filme drehte und zu ganz neuer Anerkennung fand. Andererseits ist es ein Problem, denn Stewart ist immer Stewart. Ist selbst schon zu sehr Superstar. Ist die Stewart-Stimme, die Stewart-Eckigkeit, der Stewart-Blick.
«Jean Seberg – Against All Enemies» hätte schon lang ins Kino kommen sollen, der Film gehört mittlerweile zum gut abgehangenen Corona-Kino-Notvorrat, aber es war ausgerechnet dieses Warten, was ihm gut getan hat. Denn als er vor genau einem Jahr am Zurich Film Festival lief, achtete man eher auf die gutmeinende, aber in ihrem politischen Furor doch auch recht naiv scheinende Protagonistin.
Jetzt, mit den amerikanischen Rassenunruhen, mit den exilierten oder entführten Oppositions-Führerinnen von Belarus, mit dem Giftanschlag auf den russischen Kremlkritiker Nawalnyi, wird die Mechanik hinter Jean Seberg plötzlich eindringlich aktuell. Man schüttelt den Kopf über die Intrigen von COINTELPRO und erkennt zu viel gegenwärtig Widerwärtiges wieder.
Und so hat die Geschichte, die sich beelendenderweise zu wiederholen beliebt, eine Erzählung ins Jetzt geholt, die zu den grossen Nostalgienarrativen der Filmgeschichte gehört. Die Tragödie einer Amerikanerin, die in Europa den Idealismus der sich befreienden Sechziger inhaliert und damit an ihrer Heimat zerschellt.
«Jean Seberg – Against All Enemies» läuft ab dem 17. September im Kino.
Wie kann etwas Non-Verbales zum Vokabular gehören? Da ist wohl "Repertoire" gemeint.
War übrigens auch in der Schweiz gang und gäbe - bürgerliche Politik in Reinkultur.