Auf der Bestseller-Hitparade des «Spiegels» regiert bei den Sachbüchern Michelle Obama mit «Becoming», bei der Belletristik Michel Houellebecq mit «Serotonin». Michelle et Michel alors. Die erfolg-, einfluss- und auch sonst reichste (oder zumindest sehr reiche), emanzipierte, vorbildlich gebildete afroamerikanische Ex-First-Lady und der völlig abgewrackte, aber wahrscheinlich auch recht reiche, sexistische französische Schriftsteller, der sagt, dass Trump sein Bruder im Geiste sei. Ein unwahrscheinliches, ungleiches Paar. Und doch die Beliebtesten beim Publikum. Gleichzeitig. Jetzt.
Hat da jemand Gender-Bias gesagt? Oder gedacht? Ich nicht! Und ich gebe zu: Michel hab ich schon gelesen, im Gegensatz zu Michelle. Was bei den Männern meiner Redaktion plötzlich ein irres Interesse auslöste. Es ist, als hätte ich wichtige Fussballspiele bereits vor ihnen gesehen. Die Fragen sind: Ist es lustig? (Was wohl auch noch heissen sollte: Sind die Sexszenen gut?) Und: Der hat die Gilets Jaunes vorausgesagt, oder?
Beginnen wir mit der zweiten Frage: Keine Ahnung, wer diese Behauptung, die seither hundertfach kopiert wurde, in die Welt gesetzt hat, jedenfalls nicht Houellebecq selbst. Wahrscheinlich ein Marketingstratege, der zur fortschreitenden Mythologisierung des Autors beitragen wollte.
Wir erinnern uns: In «Unterwerfung» entwarf Houellebecq die Islamisierung Frankreichs. Am Erscheinungstag des Buches wird «Charlie Hébdo» attackiert. Einer der erschossenen Redakteure hat vor Jahren über Houellebecq publiziert. «Die Schüsse auf die Redaktion von ‹Charlie Hebdo› galten auch Houellebecq», folgert die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». MH wird zu einer Art Märtyrer geadelt.
In «Serotonin» beschreibt er nun nichts, was mit den Aufständischen von Paris vergleichbar wäre, sondern einen traditionellen französischen Bauernaufstand in der Normandie, wie er jedes Jahr mindestens einmal stattfindet. Import-geschädigte Bauern blockieren mit ihren Maschinen eine Autobahn und dann kommt endlich das, worum es im ganzen Buch geht, was das Ziel des wohl nur 46-jährigen, sich aber geistig und körperlich völlig greis gebärdenden Erzählers wie auch seines einzigen und daher besten Freundes ist: ein Heldentod.
Der Freund ist kein gewöhnlicher Bauer, der wäre dem Erzähler, der irgendwas mit Agrarwissenschaften macht, nicht angemessen. Er ist ein verarmter Adliger, der in marodem Schloss und mörderischem Selbstmitleid dahinsiecht und sich jetzt, auf der Traktor-Barrikade, mit seiner Lieblingswaffe, einem Schmeisser-Sturmgewehr, endlich medienwirksam und revolutionsromantisch («seine langen blonden Haare wehten in einem Windhauch») verabschiedet. Nix Gilets Jaunes. Aber okayer Effekt.
Der Erzähler suhlt sich wie jeder MH-Mann im Selbst- und Weltekel, bloss ist er jetzt so depro, dass er wegen der Psychopharmaka keinen mehr hochkriegt. Obwohl er immer an Sex denkt. Sich daran erinnert. Versaute Videos der dauergeilen Asiatin schaut, mit der er nicht mehr zusammen sein will. (Ich hab den Test gemacht und alle Stichworte gegoogelt, welche die dreckigste der Fantasien hergab, «Hund», «Mund» und noch so ein paar, und siehe da, der erste – verdammt unappetitliche – Treffer aus Pornhub war deckungsgleich mit der Szene im Roman, soviel zu MHs kreativen Ambitionen.)
Und? Ist es lustig? Jaaaa ... jedenfalls wenn man das Buch wie ich als Krankheitslektüre liest. Irgendwas in mir kringelte sich andauernd vor Lachen. Irgendwas fand das Leiden des abdankenden Mannes gelegentlich gar eindringlich und berührend. Irgendwas sagte mir: Frau Meier, du spinnst. Bloss, was war das Problem?
Langsam dämmerte in mir eine Ahnung auf: Meint der das alles gar nicht so ironisch, wie mein Fieberkopf das gerne lesen möchte? Meint der das etwa genau so, wie es da steht und wie er das in jedem seiner Interviews auch sagt? So tragisch, so pathetisch, so larmoyant. Die Differenz zwischen MH und seinen Figuren scheint gering bis nicht vorhanden. Wo ist da der intellektuelle oder empathische Bruch?
Nun ist MH in seinem Genre des sich end- und masslos bemitleidenden Mannes in der zweiten Lebenshälfte natürlich nicht allein. Es ist in sich selbst ein end- und masslos erfolgreiches Genre, es bedient offenbar ein akutes Bedürfnis, man muss das ernst nehmen. Karl Ove Knausgård und viele andere gehören dazu, der Maskulinist Jordan Peterson liefert den rechtsideologischen Takt.
Immer mal wieder geht es um heldische Todesfantasien, manchmal auch um ein hartes Flirten mit Übermännern wie Hitler. Immer kommt mindestens eine grosszügige Prostituierte drin vor, die's den Typen gern auch gratis besorgt. Die mysteriöse, aber dann doch mehr als willige Asiatin ist ein Dauertopos. Trotzdem: Wenn das gut gemacht ist, wenn der Autor über seinen Monstern steht und nicht anbetend in ihnen versinkt, dann ist das tatsächlich von grossem Unterhaltungswert, auch für ein weibliches Lesepublikum.
So weit wie MH ist allerdings noch keiner gegangen. Schauen wir uns einmal an, womit er seinen Roman beschliesst: «Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden? Offenbar ja.»
Verhärtet sind die Herzen der Menschen (beziehungsweise der «Muschis» und «Schlampen») natürlich einzig dem Erzähler gegenüber. Der ist eine allmählich zum Zombie werdende Kreatur, die unter anderem darüber nachsinnt, das Kind einer Ex zu erschiessen, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und gewiss auch Liebe zu haben. Frankensteins Monster war dagegen ein Ausbund an echter, reflektierter Empfindsamkeit.
Aber ein Mann, der sich elend fühlt, ist natürlich schon befugt, sich mit Christus zu identifizieren, wozu wäre dieser sonst erfunden worden? Schliesslich liegt im Grössenwahnsinn grosser Trost.
P.S. Demnächst: Lektüre aus Frankreich, die ebenso verrucht, aber grossartig ist.