Wenn man schon mal einen Witz parat hat, muss man ihn auch extrabreit treten, es könnte ihn ja irgendwer nicht mitkriegen. Der Zürcher Regierungspräsident Mario Fehr jedenfalls beginnt seine kurze Ansprache ans Vor-Eröffnungs-Publikum des diesjährigen Zurich Film Festivals so: «Ich habe in den letzten Tagen mitgekriegt, dass es kein Schoggijob ist, so ein Festival zu organisieren.» Niemand lacht. Fehr doppelt nach: «Dasch doppeldüütig gsii! Schoggijob, Läderach ...»
Und schon sind wir mittendrin im Imageproblem des ZFF, seiner – gerade noch rechtzeitig gelösten – Sponsoring-Ehe mit dem gestürzten Schoggikönig Läderach, der allerdings, das muss man auch mal sagen, unter den vielen «Partnern» des ZFFs nur gerade in der letzten, kleinsten Kategorie vorhanden war, quasi dort, wo es um ein paar Pralinés-Päckli in den Goodiebags für die Gäste gegangen wäre. Aber hey, Schaden erkannt und abgewendet.
Es ist Mittwoch, der Abend vor der «richtigen» Festivaleröffnung mit Bundesrat Berset also, das Kino Frame (ehemals Kosmos), das vom ZFF (und seiner Besitzerin der NZZ) vor der Schliessung gerettet wurde, wird eingeweiht. Vor dem Kino gibt es Promis und echte Kamele, weil das zum Gebäudekomplex gehörige Restaurant Khouris, das ebenfalls Eröffnung feiert, jetzt von den Betreibern des Palestine Grill in der Langstrasse übernommen worden ist, und die servieren ja immer Kamel am Spiess. Nein, Quatsch.
Zwischen die Kamele mischen sich Baschi, Filippo Leutenegger, der Tschugger, Carlos Leal, Tom Kummer und, und, und, prominente Frauen muss man ein bisschen suchen – ah, doch, da sind Sanija Ameti und Yvonne Eisenring –, aber schliesslich ist heuer eines der Festival-Schwerpunktthemen «Männer». Das dann prompt Probleme macht, etwa in Gestalt von Jürg Läderach mit seinen geschlagenen Schulkindern.
Und dann ist da ja auch noch Stargast Peter Doherty, über den in England gerade ein noch neuerer Dokfilm angelaufen ist als der Dokfilm «Stranger in My Own Skin», der am ZFF gezeigt werden wird. Er heisst «Pete Doherty, Who Killed My Son?» und ist das Testemonial einer Mutter, deren Sohn sich während einer Crack-Party bei und mit Doherty in den Tod stürzte.
Doch um derart bedrückende Themen geht es im Frame-Eröffnungs- und ZFF-Vor-Eröffnungs-Film «Early Birds» von Michael Steiner nicht. Da geht es um was ganz anderes, nämlich Partys, Drogen, Schlägereien und sehr viele Tote. Michael Steiner erzählt begeistert, wie befreiend es gewesen sei, den Film mit zwei Streaminganbietern – Netflix und oneplus – zu produzieren, wie schnell die Wege da im Vergleich zur helvetischen Filmförderung gewesen seien, wie wenig von seinem eigenen «Drive und Elan», seiner «Leidenschaft» da gestaucht worden seien, wie sehr er den Film «aus der Hüfte» habe schiessen können.
Gedreht wurde viel in der Langstrasse, die Passanten wurden dort im vergangenen Winter wochenlang mit einem wichtig klingenden «Wir drehen. Für Netflix.» weggeschickt. Und heieiei, so hart wie in «Early Birds» haben wir die Langstrasse, die ja seit vielen Jahrzehnten im Schweizer Film sowas wie die einzige Strasse ist, in der Drogen und Sex und Gewalt überhaupt denkbar sind, wirklich noch nie gesehen.
Steiners Ansage war, dass er «‹Thelma & Louise› vs. ‹Bound›» erzählen wolle. Zwei Frauen gegen den Rest der Männer-Welt, zwei Frauen in einem Auto, zwei schöne Frauen, zwei Frauen auch, die gewaltig zuschlagen können. Und: Zwei Frauen mit einem tragischen Ende. Blutbäder statt Schaumbäder. Genau das hat er geliefert.
Der Film beginnt mit einem grandiosen Hyperventilieren durch das nächtliche Zürich, stossweise werden die Kamerafahrten beschleunigt und verlangsamt, mitten drin eine junge Frau mit einer Tasche auf der Flucht, durch Strassen, durch Kneipen, drinnen und draussen verschmelzen, irgendwann knallt ein Tor vor ihrem Verfolger zu, kurze Verschnaufpause, dann werden die Vor- und Nachgeschichte ihrer Flucht erzählt.
Wir erfahren, wie die angebliche Jus-Studentin Annika (Nilam Farooq) mit ihrer auffallenden, erotischen Unterwürfigkeit bei einer Schiesserei zwar ihren Lover verliert, aber zu einer Tasche voller Asche und dem weissen Gold der Langstrasse kommt. Wie sie es schafft, nur in Crocs (!) über die Dächer von Zürich zu fliehen. Wie sie zu Caro (Silvana Synovia), der ex-jugoslawischen Altenpflegerin auf Bewährung findet und wie sich die beiden zusammentun und mit dem Geld ein neues Leben irgendwo im Süden anfangen wollen. Wie das alles fatal schief geht, weil die beiden wie alle anderen im Film ans eine oder andere Ende eines Spektrums namens Milieu gehören.
Niemand ist hier nicht korrupt. Schon gar nicht die Bullen, von denen Anatole Taubman natürlich das grösste Schwein ist. Loads of Lügen und Lebenslügen. Und merke: Das Böse ist männlich, hat einen Dauerständer und will der Frau grundsätzlich an die Wäsche. Ausser Caros Bruder und ihr kleiner Sohn. Sonst: jeder und immer. Egal ob im Altersheim oder im Alpenchalet.
Die Welt ist ein Kartenhaus aus Klischees. Allerdings ein sehr effizientes, hier mischt sich Steiners Liebe zu Drive und Elan mit dem gnadenlosen Unterhaltungsauftrag vieler Netflix-Produkte, lieber dreimal zu schnell aus der Hüfte geschossen, als einmal innegehalten, Atem geholt, reflektiert, die Figuren psychologisch angereichert, mal auf eine Stimmung vertraut statt auf noch mehr Action.
Auf seiner Oberfläche ist «Early Birds» eine radikale Raserei, was auch ganz wörtlich gemeint ist, einer rennt so schnell wie der Terminator und das beste Fluchtauto der Girls ist «Kill Bill»-gelb. Silvana Synovia und Nilam Farooq sind toll, Farooq erinnert an die junge Marion Cotillard, Synovia wirkt wie ein rotziges, glamouröses Insekt von einem fernen Stern, doch unter alledem ist «Early Birds» ein vollkommen leerer Film. Da will so vieles doppeldeutig sein, dass am Ende gar nichts mehr von Bedeutung ist. Auf Netflix wird das laufen.
«Early Birds» am ZFF: Sa, 30.9., 21 Uhr, Kongresssaal. Do, 5.10., 21.15 Uhr, Frame 1.
Regulärer Kinostart: 12. Oktober
Im Frühjahr 2024 wird der Film auf den Streamingportalen oneplus und Netflix zu sehen sein.