Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit. Vor 13 Jahren versprach James Cameron nichts weniger als eine Revolution des Kinos. Mit «Avatar» präsentierte er dazu einen Blockbuster, dessen gigantische Bilderwelten sämtliche Vorstellungen sprengten. Inhaltlich war es hingegen ein schlichter Film über die Konfrontation von menschlichen Kolonialisten mit blauen, naturverbundenen Aliens auf dem Planeten Pandora. In Erinnerung blieben vor allem die wuchernde Pflanzenwelt und die fantasievolle Fabelfauna.
Der Erfolg gab Cameron erst einmal Recht: «Avatar» war für neun Oscars nominiert, gewann drei davon und wurde mit einem Einspielergebnis von rund 2,8 Milliarden Dollar zum finanziell erfolgreichsten Film aller Zeiten. Doch der popkulturelle Masseneffekt wollte sich in den folgenden Jahren nicht recht einstellen. «Avatar» wurde weniger als die etablierte «Star Wars»-Franchise oder sich gerade etablierenden Superhelden von Marvel von Fan-Gefühlen überhöht.
Zu generisch war die Pocahontas-Story, zu glatt die Figuren, die sich in Stereotypen wie der toughen Wissenschafterin (Sigourney Weaver), der toughen guten Soldatin (Michelle Rodriguez) oder dem toughen bösen Colonel (Stephen Lang) erschöpften. Auch der Held Jake Sully (Sam Worthington), der gelähmte Ex-Marine, der zunächst in einen Fremdkörper – einen sogenannten Avatar – schlüpft, um später mit Leib und Seele ein Ausserirdischer zu werden, ist keine Ikone wie Luke Skywalker geworden.
Allerdings machte «Avatar» 2009 die 3D-Technik, die in der Kinogeschichte bereits in anderen Jahrzehnten aufgeflackert war, für das neue Millennium kinosaalfähig. Die Betreiber rüsteten um, bald folgte eine Flut von weiteren Filmen wie Tim Burtons «Alice in Wonderland» oder Peter Jacksons «The Hobbit»-Trilogie. Die anfängliche Begeisterung für Objekte, die aus der Leinwand herausragten oder auf die Zuschauer zuschossen, ebbte jedoch rasch ab. Lange kam nichts mehr ins Kino, wofür es sich lohnte, die 3D-Brille aufzusetzen. Und in regulärem 2D sieht «Avatar» heute auf dem heimischen Bildschirm aus wie ein mässig gealtertes Computerspiel.
Im Jahr 2022 nestelt man für die Fortsetzung «Avatar: The Way of Water» erneut an dem leicht lästigen Plastikgestell herum, das James Cameron am liebsten ganz abgeschafft hätte. Eine Zeit lang hegte der Regisseur die Ambition, ohne jeglichen Augenaufsatz einen dreidimensionalen Effekt zu erzielen, bisher vergebens. Doch auch so vergisst man rasch alles um sich herum: Der zweite «Avatar» sieht schlicht überwältigend aus, setzt technisch neue Massstäbe. Besonders die Tiefenschärfe und der hohe Detailgrad sind beeindruckend, sofort ist man mitten im Getümmel, zurück auf Pandora. Dort sind inzwischen einige Jahre vergangen – genau wie in der Realität.
13 Jahre sind eine lange Produktionsdauer, doch nach der Durststrecke der Pandemie scheint «The Way of Water» genau zur richtigen Stunde zu kommen. Der Film wird als ein weiterer Weckruf für die Kinos ersehnt, womöglich mehr bei den Kinobetreibern als bei den Zuschauern. Auch wenn das Urteil der Schweizer Zuständigen zum Stichwort Kinokrise durchaus differenziert ausfällt, sehen goldene Zeiten anders aus. Ein Selbstläufer bloss qua Marke ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein möglicher Misserfolg des zweiten «Avatar» an den Kassen könnte gravierende Konsequenzen nach sich ziehen, sowohl für die Zukunft der Saga, als auch für die Kinolandschaft selbst.
Die ausführenden 20th Century Studios gehören mittlerweile zum Disney-Konzern, der gerade selbst in einer schwierigen Lage steckt. Bei der Vorstellung der Quartalszahlen im November musste Disney für seine Streamingdiensteeinen Verlust von rund 1,5 Milliarden Dollar beziffern. Wie es mit dem Flaggschiff «Star Wars» im Kino weitergeht, ist offen. Die beiden Vorzeigeproduktionen «Lightyear» und «Strange World» sind katastrophal gefloppt. Jüngst wurde der frühere Vorstandsvorsitzende Bob Iger aus dem Ruhestand zurückgeholt. Nun liegt es ausschliesslich in den Händen des Publikums, ob es sich nach all der Zeit noch einmal auf die Reise nach Pandora einlassen will.
Auf Pandora haben Jake Sully und die Häuptlingstochter Neytiri (Zoe Saldana) eine Familie gegründet und leben mit ihren vier Kindern ein einfaches Glück in der Natur. Doch die Himmelsmenschen, wie die Erdlinge von den einheimischen Na’vi genannt werden, kehren zurück und wollen diesmal den gesamten Planeten kolonialisieren. Ein Teil des Waldes fällt einer Feuersbrunst zum Opfer, eine eherne Siedlung entsteht, gebaut von krabbelnden Roboterkäfern.
Die erste halbe Stunde von «The Way of The Water» setzt voll auf den Geist des ersten Teils, der auch in Form einer Rache- und Wiedergänger-Geschichte zurückkehrt. Schliesslich löst bereits der Blick auf die Besetzungsliste Verwunderung aus: Sigourney Weaver? Ihre Figur Doktor Grace Augustine war doch ebenso gestorben wie der Colonel Miles Quaritch.
Doch Cameron vertraut dem Cast seines Mega-Erfolgs und holt beide mit einem Trick wieder zurück. Weaver verkörpert nun quasi das jüngere Ich ihrer selbst, Kiri, die 14-jährige Tochter der Wissenschafterin, von Jake und Neytiri adoptiert. Und der Soldat mit der markanten Stirnnarbe, der den ganzen Avatarismus im ersten Teil nur für seine ultramilitaristischen Ziele ausnutzen wollte, ist nun selbst im übergrossen Na’vi-Körper wiederauferstanden und sinnt auf Rache an Jake.
Nicht nur durch diese zwei Rückkehrer in neuer Gestalt wird Identität als eines der zentralen Konfliktthemen in «The Way of Water» aufgebaut. Die dunkelblauen Na’vi, die im Vorgänger noch als das menschliche Gegenstück etabliert wurden, wirken inzwischen selbst wie halbe Menschen. Sie sprechen zumeist Englisch miteinander – die Jungen wie normale amerikanische Teenager(«Yo, Bro!») – und bedienen sich menschlicher Technologie.
Doch es gibt noch andere Na’vi-Stämme auf Pandora. Etwa den Wasser-Clan Metkayina, bei dem die Familie Sully Zuflucht suchen muss. Mit seinen Flossen und Vorurteilen wird der Stamm zu jenem neuen «Ursprünglichen», von dessen Lebensweisen man lernen kann. Und das tut die Familie in genüsslicher Ausführlichkeit, bar jeder Erzählökonomie.
Und hier beginnt James Cameron der Film zu entgleiten und langsam in erzählerische Untiefen zu versinken – bis hin zum kompletten Stillstand. Während man noch die eindrücklichen, ja sensationellen Unterwasserbilder bestaunt und am liebsten mit den vorbeiziehenden Fischschwärmen, Quallen oder Meeresgiganten wie dem walähnlichen Tulkun mitschwimmen möchte, stellt man fest, dass der Regisseur und Tiefseetaucher das Erzählen vergessen hat, wie berauscht von seiner Vision.
Eigentlich bräuchte man jetzt keine Geschichte mehr, dann könnte man zumindest noch in Ruhe in den Bildern schwelgen, die das Kino zum Hochglanz-Aquarium werden lassen. Doch ausgerechnet Cameron, der sich mit «Aliens» und «Terminator 2» einen Namen als Spezialist für grossartige Action-Fortsetzungen machte, legt mit hier mit seinem Showdown einen gewaltigen Bauchplatscher hin. Ohne zu viel zu verraten: «The Way of Water» gerät irgendwann zu einem nicht enden wollenden Kreislauf von entführten, verlorenen und wieder geretteten Kindern. Irgendwann stellt sogar die jüngste Tochter Tuk verwundert fest, sie sei ja schon wieder gefesselt.
All der Klimbim wird begleitet von hohlen, halb-esoterischen Sätzen wie: «Wasser verbindet alles, Leben und Tod, Licht und Finsternis.» Oder: «Der Weg des Wassers ist Anfang und Ende». Im Gegensatz zum H2O finden die insgesamt 190 Minuten des Films allerdings schier kein Ende. Jegliche Ansätze von ernsthaften identitätspolitischen Fragen oder Umweltaspekten werden mit Phrasen zugekleistert.
«Avatar: The Way of Water» will vieles zugleich sein: Intimes Familiendrama, Rachegeschichte, ultimativer Griff zu den Sternen. Und will uns mit einem Budget jenseits der 200 Millionen Dollar ins Bewusstsein rufen, wie wichtig die Bewahrung des Natürlichen ist. Der Film müsste laut James Cameron der dritt-oder viert-erfolgreichste Film der Geschichte werden, um nicht als Flop zu gelten. Ähnlich grössenwahnsinnige Vorhaben gingen in der Filmgeschichte entweder baden oder vergessen. Im schlimmsten Fall ist die Zukunft schon vorbei, ehe sie begonnen hat.
«Avatar: The Way of Water» läuft ab dem 14. Dezember im Kino.
Der anschließende Erfolg von Titanic gab Cameron aber mehr als Recht. Klar ist es immer eine objektive Meinung wie gut oder schlecht man einen Film findet, aber mit Begriffe wie "größenwahnsinig" sollte man sparsam sein.
Denn James Cameron hat vielen Kritiker schon mehrmals das Gegenteil bewiesen.