Passiert ist es im Juli 2014. Der Berufschauffeur, nennen wir ihn Paul, war mit seinem Lastwagen auf der A1 in Richtung Zürich unterwegs. Vor ihm fuhr ein anderer, langsamer Lastwagen. Auf Höhe Safenwil, direkt nach dem Ende einer Überholverbots-Zone für Lastwagen, setzte Paul zum Überholen an. Als er mit knapp 80 km/h auf die Überholspur einschwenkte, fuhr er einem nachfolgenden Auto vor die Nase, sodass der Fahrer abbremsen musste. Zu einem Unfall kam es nicht.
Staatsanwaltschaft und Gerichte streiten sich nun seit bald vier Jahren darum, wie der Lastwagenfahrer für das brüske Fahrmanöver bestraft werden soll. Zunächst stellte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm im Herbst 2014 einen Strafbefehl wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln aus. Paul erhob Einsprache, worauf das Dossier vor dem Bezirksgericht Zofingen landete. Dieses bestätigte im Juli 2015 den Schuldspruch und verknurrte den Lastwagenfahrer zu einer bedingten Geldstrafe von 1600 Franken und einer Busse von 300 Franken.
Wieder legte Paul Berufung ein. Das Obergericht hiess – notabene mehr als ein Jahr nach dem erstinstanzlichen Urteil – seine Beschwerde wegen Verletzung des Anklagegrundsatzes gut. Daraufhin, es war mittlerweile Ende 2016, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Dieses Mal wurde Paul vom Bezirksgericht lediglich wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln zu einer 500-Franken-Busse verurteilt, ohne bedingte Geldstrafe.
Dieses Mal ging die Staatsanwaltschaft in Berufung. Das Obergericht verschärfte im Herbst 2017 prompt das Urteil, sah nun doch wieder eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln für gegeben und verhängte gegen Paul eine bedingte Geldstrafe von 6600 Franken sowie eine Busse von 1000 Franken.
Nun war es wieder am Lastwagenfahrer, das Urteil weiterzuziehen. Aus den Akten geht hervor, dass für den Chauffeur nicht in erster Linie die Strafzumessung im Vordergrund steht, sondern die zu erwartende Administrativmassnahme des Strassenverkehrsamts. Sprich: der drohende Führerscheinentzug, welcher bei einer groben Verletzung der Verkehrsregeln mindestens drei Monate dauert. Eine Katastrophe für jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit Fahren verdient.
Das neuste Verdikt in dieser Sache kommt aus Lausanne: Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Chauffeurs gut und schickt die Sache zurück ans Obergericht. Wer überhole, müsse auf den nachfolgenden Verkehr Rücksicht nehmen – und es sei unbestritten, dass Paul gegen diese Verkehrsregel verstiess, hält das Bundesgericht fest. Er habe «wichtige Verkehrsvorschriften in schwerer Weise missachtet». Aber: Er habe sich nicht rücksichtslos verhalten. So schreibt das Bundesgericht: «Wie bereits die erste Instanz zutreffend erwog, scherte der Personenwagen fast gleichzeitig wie der Beschwerdeführer aus und hielt keinen genügenden Abstand zu dessen Lastwagen. Unter diesen Umständen ist es durchaus denkbar, dass der Beschwerdeführer im Moment, als er nach hinten schaute, den Personenwagen übersah und davon ausging, dass die Überholspur frei war.»
Das Obergericht hatte noch argumentiert, Paul habe jederzeit mit einem Überholmanöver durch das Auto rechnen müssen. Dessen Gegenargument, das Auto sei schon mehrere Kilometer hinter ihm hergefahren, weshalb er ebenso gut habe davon ausgehen können, dass dies auch so bleibe, liess das Bundesgericht gelten. «Zwar schwenkte der Beschwerdeführer pflichtwidrig unvorsichtig aus und erkannte den Personenwagen zu spät, doch handelte er deswegen unter den konkreten Umständen nicht rücksichtslos», so das Bundesgericht. Die schwere Verkehrsregelverletzung ist damit vom Tisch. Die Akte geht zurück ans Obergericht und Paul erhält vom Kanton 3000 Franken Entschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren.
Urteil: 6B_1324/2017