Bei einer solchen Versuchsanordnung kommt einem schnell einmal Peer Steinbrück in den Sinn: «Hätte, hätte – Fahrradkette», pflegte der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat gerne zu sagen, wenn ihm rein hypothetische Fragen gestellt wurden. Die Denkfabrik Avenir Suisse bemüht nun einen ähnlichen Ansatz: «Was wäre, wenn …» heisst die jüngste Publikation, die sich mit 13 möglichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzt und fragt, welche Konsequenzen sie für die Schweiz haben würden.
Doch anders als bei der Fahrradkette, haben die hypothetischen Erkenntnisse einen Wert, denn die Denkfabrik nimmt einige der grossen Trends auf. Was ist die richtige Klimapolitik? Wie sollen wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft umgehen und wie könnte die langfristige Beziehungen zur EU genau aussehen?
Heute stellte Avenir Suisse ihr neues Buch an einer Pressekonferenz vor. Es gäbe landauf, landab viele bewahrende Tendenzen, sagte Direktor Peter Grünenfelder. Doch die Gesellschaft ändere sich in einem atemberaubenden Tempo. Noch sei die Schweiz Weltspitze, doch sie müsse sich bewegen. Er sagt:
Und: «Wir möchten die schleichenden, verborgenen Kräfte ans Licht zerren und auf die Konsequenzen hinweisen.»
Die Denkfabrik hat dabei drei Tendenzen ausgemacht, zu denen sie insgesamt 13 Szenarien skizziert hat: Die globale Verschiebungen (wie der Aufstieg Asiens), der illiberale Aktivismus (der von Symbolpolitik geprägt ist), sowie die Digitalisierung und die Demografie (bei der es um den technischen Fortschritt und die Bevölkerungsentwicklung geht). Drei Beispiele und Lösungsansätze zu den grossen Trends:
Jeden Tag steigt die Lebenserwartung um drei Stunden. Eine Revision des Altersvorsorgesystems sei deshalb zwingend, heisst es im Buch. Das hundert Jahre alte Konzept eines fixen Rentenalters müsse überdacht werden. «Man sollte sich von der sterilen Diskussion um die ‹Altersguillotine 65› befreien», empfiehlt die Denkfabrik.
Stattdessen müsse das Rentenalter auf der Grundlage von Beitragsjahren definiert werden – und damit in Abhängigkeit von der beruflichen Biografie der einzelnen Menschen. Diejenigen, die frühzeitig in den Arbeitsmarkt eintreten und einer Arbeit mit stärkerer körperlicher Abnutzung nachgehen würden, sollten früher in Rente gehen. Auch die Haltung zur Bildung müsse angepasst werden. «Es reicht nicht mehr, in jungen Jahren alles zu lernen. Vielmehr sollte sich unsere Gesellschaft auf ein Modell des lebenslangen Lernens zubewegen.»
Das Szenario eines Massenexodus von multinationalen Firmen wäre für die Schweiz nur schwer zu verkraften, denn diese Unternehmen würden massgeblich zum Wohlstand des Landes beitragen, schreiben die Autoren. Die Erhaltung der Standortattraktivität sollte daher wieder eine höhere Priorität erhalten. Zuletzt habe man die sinkende Bedeutung beim Brexit feststellen können. Keine der Firmen, die Grossbritannien verlassen werden, zieht in die Schweiz. Die Regierung müsse deshalb schon heute die fiskalische Attraktivität gezielt steigern.
«Besonders beim Bund gäbe es genügend Spielraum, beispielsweise über eine Senkung der direkten Bundessteuer», heisst es im Buch. Zudem müsse es leichter werden Nicht-EU-Bürger anzustellen und der Markt solle für ausländische Kapitalgeber geöffnet werden. Das sei hierzulande deutlich schwieriger als in den Konkurrenzstandorten wie Holland oder Irland.
Die Schweiz müsse eine stringente Klimapolitik verfolgen. Wirtschaftswachstum sei dabei aber nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung, schreiben die Autoren. «Junge Politaktivisten fordern schon heute autofreie Städte, staatliche Eingriffe in die Investitionspolitik der Schweizer Banken oder eine CO2-Reduktion.»
Zwar sei es durchaus sinnvoll, auch im Inland Massnahmen zur zu ergreifen. Jedoch müsse in der Klimapolitik der Effizienz die höchste Bedeutung zukommen: So solle pro eingesetzten Franken der grösstmögliche positive Effekt auf das Klima resultieren. «Vor diesem Hintergrund ist die Vermeidung des CO2-Ausstosses primär dort anzustreben, wo dies zu den tiefst möglichen Kosten zu bewerkstelligen ist.» Das heisst im Ausland.
Dem Klima sei es egal, in welchem Erdteil Treibhausgase reduziert werden.
Globale Ansätze seien in diesem Fall vielversprechender. So müsse insbesondere mit dem Abkommen von Paris verlässliche Mechanismen geschaffen werden, um Doppelzählungen von CO2-Einsparungen auszuschliessen.
So interessant manche dieser zu Ende gedachten Trends sind, so offen bleibt, wie das neue Parlament mit diesen Erkenntnissen umgehen wird. Bestenfalls fliessen sie in den Polit-Prozess ein. Vielleicht sagen sich viele Parlamentarier aber auch nur: «Hätte, hätte – Fahrradkette».