Schweiz
Altersvorsorge

Neue Szenarien für die Schweiz: Was, wenn wir 110 Jahre alt werden?

Die Lebenserwartung steigt täglich: Wie soll die Gesellschaft damit umgehen?
Die Lebenserwartung steigt täglich: Wie soll die Gesellschaft damit umgehen?

Neue Szenarien für die Schweiz: Was, wenn wir 110 Jahre alt werden?

Die Bürger haben ein neues Parlament gewählt: Nun zeigt eine Denkfabrik, welche Probleme der Schweiz drohen – und wie man sie lösen kann.
31.10.2019, 19:1931.10.2019, 20:02
Yannick Nock / ch media
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Bei einer solchen Versuchsanordnung kommt einem schnell einmal Peer Steinbrück in den Sinn: «Hätte, hätte – Fahrradkette», pflegte der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat gerne zu sagen, wenn ihm rein hypothetische Fragen gestellt wurden. Die Denkfabrik Avenir Suisse bemüht nun einen ähnlichen Ansatz: «Was wäre, wenn …» heisst die jüngste Publikation, die sich mit 13 möglichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzt und fragt, welche Konsequenzen sie für die Schweiz haben würden.

Doch anders als bei der Fahrradkette, haben die hypothetischen Erkenntnisse einen Wert, denn die Denkfabrik nimmt einige der grossen Trends auf. Was ist die richtige Klimapolitik? Wie sollen wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft umgehen und wie könnte die langfristige Beziehungen zur EU genau aussehen?

Heute stellte Avenir Suisse ihr neues Buch an einer Pressekonferenz vor. Es gäbe landauf, landab viele bewahrende Tendenzen, sagte Direktor Peter Grünenfelder. Doch die Gesellschaft ändere sich in einem atemberaubenden Tempo. Noch sei die Schweiz Weltspitze, doch sie müsse sich bewegen. Er sagt:

«Wir sind besorgt, dass es in der Politik kein Bewusstsein für diese langfristigen Entwicklungen gibt.»

Und: «Wir möchten die schleichenden, verborgenen Kräfte ans Licht zerren und auf die Konsequenzen hinweisen.»

epa03879115 Social Democratic Party (SPD) chancellor candidate Peer Steinbrueck reacts to the first results of the 2013 German federal elections at SPD party headquarters in Berlin, Germany, 22 Septem ...
Machte die Redewendung berühmt: Peer Steinbrück antwortete auf hypothetische Fragen gerne mit: «Hätte, hätte – Fahrradkette».Bild: EPA

Die Denkfabrik hat dabei drei Tendenzen ausgemacht, zu denen sie insgesamt 13 Szenarien skizziert hat: Die globale Verschiebungen (wie der Aufstieg Asiens), der illiberale Aktivismus (der von Symbolpolitik geprägt ist), sowie die Digitalisierung und die Demografie (bei der es um den technischen Fortschritt und die Bevölkerungsentwicklung geht). Drei Beispiele und Lösungsansätze zu den grossen Trends:

1. Was wäre, wenn die Lebenserwartung 110 Jahre erreicht?

Jeden Tag steigt die Lebenserwartung um drei Stunden. Eine Revision des Altersvorsorgesystems sei deshalb zwingend, heisst es im Buch. Das hundert Jahre alte Konzept eines fixen Rentenalters müsse überdacht werden. «Man sollte sich von der sterilen Diskussion um die ‹Altersguillotine 65› befreien», empfiehlt die Denkfabrik.

Stattdessen müsse das Rentenalter auf der Grundlage von Beitragsjahren definiert werden – und damit in Abhängigkeit von der beruflichen Biografie der einzelnen Menschen. Diejenigen, die frühzeitig in den Arbeitsmarkt eintreten und einer Arbeit mit stärkerer körperlicher Abnutzung nachgehen würden, sollten früher in Rente gehen. Auch die Haltung zur Bildung müsse angepasst werden. «Es reicht nicht mehr, in jungen Jahren alles zu lernen. Vielmehr sollte sich unsere Gesellschaft auf ein Modell des lebenslangen Lernens zubewegen.»

2. Was wäre, wenn die multinationalen Unternehmen die Schweiz verlassen?

Das Szenario eines Massenexodus von multinationalen Firmen wäre für die Schweiz nur schwer zu verkraften, denn diese Unternehmen würden massgeblich zum Wohlstand des Landes beitragen, schreiben die Autoren. Die Erhaltung der Standortattraktivität sollte daher wieder eine höhere Priorität erhalten. Zuletzt habe man die sinkende Bedeutung beim Brexit feststellen können. Keine der Firmen, die Grossbritannien verlassen werden, zieht in die Schweiz. Die Regierung müsse deshalb schon heute die fiskalische Attraktivität gezielt steigern.

«Besonders beim Bund gäbe es genügend Spielraum, beispielsweise über eine Senkung der direkten Bundessteuer», heisst es im Buch. Zudem müsse es leichter werden Nicht-EU-Bürger anzustellen und der Markt solle für ausländische Kapitalgeber geöffnet werden. Das sei hierzulande deutlich schwieriger als in den Konkurrenzstandorten wie Holland oder Irland.

3. Was wäre, wenn die Schweizer Klimapolitik nur im Inland umgesetzt wird?

Die Schweiz müsse eine stringente Klimapolitik verfolgen. Wirtschaftswachstum sei dabei aber nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung, schreiben die Autoren. «Junge Politaktivisten fordern schon heute autofreie Städte, staatliche Eingriffe in die Investitionspolitik der Schweizer Banken oder eine CO2-Reduktion.»

Zwar sei es durchaus sinnvoll, auch im Inland Massnahmen zur zu ergreifen. Jedoch müsse in der Klimapolitik der Effizienz die höchste Bedeutung zukommen: So solle pro eingesetzten Franken der grösstmögliche positive Effekt auf das Klima resultieren. «Vor diesem Hintergrund ist die Vermeidung des CO2-Ausstosses primär dort anzustreben, wo dies zu den tiefst möglichen Kosten zu bewerkstelligen ist.» Das heisst im Ausland.

Dem Klima sei es egal, in welchem Erdteil Treibhausgase reduziert werden.

«Eine rein inländische Klimapolitik ist in diesem Sinn schlicht ineffizient, denn man könnte mit den gleichen Mitteln global mehr schädliche Klimagase einsparen.»

Globale Ansätze seien in diesem Fall vielversprechender. So müsse insbesondere mit dem Abkommen von Paris verlässliche Mechanismen geschaffen werden, um Doppelzählungen von CO2-Einsparungen auszuschliessen.

So interessant manche dieser zu Ende gedachten Trends sind, so offen bleibt, wie das neue Parlament mit diesen Erkenntnissen umgehen wird. Bestenfalls fliessen sie in den Polit-Prozess ein. Vielleicht sagen sich viele Parlamentarier aber auch nur: «Hätte, hätte – Fahrradkette».

Buchhinweis: «Was wäre, wenn… – 13 mögliche Entwicklungen und ihre Konsequenzen für die Schweiz». 214 Seiten. 28. Franken. Avenir Suisse.
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8 Kommentare
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Andi Weibel
31.10.2019 23:59registriert März 2018
Vielleicht müsste man noch erwähnen, dass Avenir Suisse keine wissenschaftliche Institution ist, sondern eine von den Grossbanken finanzierte, neoliberal Propaganda-Kiste.
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Cyrillius
01.11.2019 10:25registriert Juni 2018
Also 1. höheres Rentenalter, 2. tiefere Steuern für Grossunternehmen und 3. die Klimapolitik ins Ausland verlagern. Ganz schön Neoliberal das Ganze. Kann man gut finden oder auch nicht, aber dazu braucht es ganz bestimmt keine “Denkfabrik“, da hätte man auch irgendeinen FDPler befragen können.
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