Das Schweizer Fernsehen wollte es im Frühjahr wissen: «Warum ist die Schweiz so reich?», lautete der Titel eines Dok-Films. Tatsächlich ist die Schweiz eines der reichsten Länder der Welt. In unserem Selbstverständnis sind wir ohnehin die Nummer eins. Nirgends lebt man besser, kein Land funktioniert so gut wie unseres, wir erfreuen uns am Wohlstand.
Warum ist das so? Die Gründe sind wie so oft vielschichtig. Eine bürgernahe Politik und Verwaltung gehört dazu, ein berufsorientiertes und im oberen Segment auf Spitzenklasse ausgerichtetes Bildungssystem. Und eine gehörige Portion Schlaumeierei, wie tiefe Steuern oder einst das Bankgeheimnis. «Eine Prise Schamlosigkeit», nennt es der SRF-Film.
Er endet mit einem weiteren Befund: «Geld fliesst zu Geld.» Oder wie es im Matthäus-Evangelium heisst: «Wer hat, dem wird gegeben.» Natürlich leben auch bei uns nicht wenige Menschen in schwierigen Verhältnissen. Seit Beginn der Coronakrise stehen sie für Essenspakete an, etwa direkt neben der protzigen Europaallee in Zürich.
Aber im Grossen und Ganzen geht es der Schweiz gut. Die Preise sind hoch, aber wir können uns auch sehr viel leisten. Und doch hat man gerade in diesem Jahr das Gefühl, dass der Wohlstand uns fett, träge und in gewissem Mass ignorant macht. «Ich lieg und besitz: Lasst mich schlafen!», sagt der Drache Fafner in Richard Wagners Oper «Siegfried».
Ein gutes Ende nimmt es mit ihm nicht, der Titelheld erschlägt ihn mit seinem Schwert. Auch die Schweiz hat in den letzten Jahren einige Schläge einstecken müssen, doch darum geht es hier nicht. Ebenso wenig um den vor allem von (Rechts-)Liberalen beklagten Reformstau. Sondern um die drei grossen Themen der letzten Wochen und Monate.
Seit bald eineinhalb Jahren ist nichts mehr, wie es zuvor war. Ein Virus stellt unser Leben auf dem Kopf. Dank den in Rekordzeit entwickelten Impfstoffen tasten wir uns langsam an die Normalität heran, mit den Virusmutationen als möglichen Stolpersteinen. Ein Teil der Bevölkerung aber tut sich bis heute schwer damit, die Realität zu akzeptieren.
40 Prozent sagten am 13. Juni Nein zum Covid-19-Gesetz. Teilweise war es eine reine Frustreaktion, aber nicht wenige sind überzeugt, dass Corona keine Pandemie ist, sondern «nur eine Grippe», trotz der eindrücklichen Bilder aus Bergamo, New York, São Paulo oder Delhi, und trotz eindeutiger Befunde der Wissenschaft. Auch die Impfung lehnen sie ab.
Überall auf der Welt sind Menschen anfällig für Verschwörungsmythen, doch bei uns haben alle Zugang zu fundierten Informationen. Dennoch lehnen diese «Skeptiker» den breiten wissenschaftlichen Konsens ab und hören lieber auf mehr oder weniger seriöse Figuren, die aus welchen Gründen auch immer «alternative Fakten» verbreiten.
Ein kritischer Umgang mit wissenschaftlichen Befunden ist wichtig. Die Corona-«Skeptiker» aber verbreiten die «Erkenntnisse», die in ihr Weltbild passen, häufig eifrig und kritiklos weiter, ohne sie zu hinterfragen. Nicht die Wahrheit zählt, sondern was sich wahr anfühlt. Eine derartige Ignoranz muss man sich definitiv leisten können.
Die Europäische Union ist unser mit Abstand wichtigster Handelspartner. Wir sind nicht Mitglied, aber sprachlich, kulturell und wertemässig ein Teil dieses Kontinents. Dennoch fand es der Bundesrat passend, das institutionelle Rahmenabkommen einseitig zu versenken, mit dem der bilaterale Weg langfristig gesichert und weiterentwickelt werden sollte.
Damit kapitulierte unsere in diesem Dossier erschreckend führungsschwache Regierung vor dem geballten und häufig faktenfreien Widerstand, ohne den blassesten Schimmer zu haben, wie es weitergehen soll. Aussenminister Ignazio Cassis kompensiert dies mit Aktionismus. Letzte Woche reiste er nach Brüssel, wo niemand auf ihn gewartet hat.
Die Schweiz hat bei der EU keine Ansprechpartner mehr, seit sie den Gesprächsfaden zerrissen hat. Die Retourkutsche bekommen nun die Medtech-Branche und die Forschung (Horizon Europe) zu spüren. Nun geistern allerlei Ideen herum, wie man die entstandenen Nachteile kompensieren könnte. Sie sehen nur auf den ersten Blick clever aus.
In Wirklichkeit sind sie kompliziert, teuer und bürokratisch. Sie ignorieren die Klagen der direkt Betroffenen. Oder sie sind weltfremd, etwa wenn es um den Bau neuer AKWs geht. Mit dem Nein zum Rahmenvertrag hat der Bundesrat mutwillig den Zugang zum EU-Markt aufs Spiel gesetzt. Auch hier gilt: Diese Ignoranz muss man sich leisten können.
Die letzten Wochen müssten allen die Augen geöffnet haben, die immer noch an den katastrophalen Folgen des menschgemachten Klimawandels zweifeln. Temperaturen bis 50 Grad an der Westküste Nordamerikas, fürchterliche Sturzfluten in Deutschland oder China. Das Wetter wird immer extremer, und laut einer ETH-Studie ist das erst der Anfang.
Wetter ist nicht gleich Klima, aber das Klima bestimmt das Wetter. Auch bei uns regnet es in diesem Sommer nicht einfach, es schüttet häufig wie aus Kübeln. Und es sollte niemand auf die Idee kommen, dass wir von extremen Temperaturen oder Sintfluten verschont bleiben. Die Frage ist nicht, ob das bei uns passieren wird, sondern wann es uns trifft.
Das Schweizer Stimmvolk aber hat sich den Luxus geleistet, mit einer kleinlichen Rappenspalter-Mentalität ein relativ moderates CO2-Gesetz abzulehnen. Sicher, ein effizienter Klimaschutz darf nicht auf Kosten ärmerer Schichten gehen. Vielleicht aber zahlen sie am Ende auf anderen Wegen, etwa über höhere Versicherungsprämien.
Zuwarten beim Klimaschutz wird uns sehr, sehr teuer zu stehen kommen. Was wir heute nicht investieren, wird morgen erheblich höhere Kosten verursachen. Vielen fällt diese Erkenntnis ebenso schwer wie die Vorstellung, wir müssten Abstriche machen an unserem keineswegs nachhaltigen Lebensstil. Auch diese Ignoranz muss man sich leisten können.
Vielleicht schaffen wir in allen drei Punkten die Kurve, wobei der Klimaschutz der drängendste und zugleich schwierigste Fall ist. Widersprüche bleiben nicht aus. Viele misstrauen der Wissenschaft bei Corona und vertrauen gleichzeitig darauf, dass sie «Wundermittel» zur Rettung des Klimas findet, die möglichst nichts kosten sollen.
Die Bildung sei unser einziger Rohstoff, wird in Reden etwa am 1. August gerne betont. Wir gehen damit gerade sehr fahrlässig um. Aber eben, wir können uns das offenbar leisten.
Wegen Corona gehen sie auf die Strasse, aber für den Planeten, für bessere Arbeitsbedingungen oder für eine faire Verteilung zwischen Arm und Reich kämpfen sie nicht…
Setzt euch für die wahren Probleme ein!
Es ist nicht nur extrem einfach, seine Meinung zu äussern, sondern die Fakten, um diese Meinung zu bilden, haben jede Kontrolle verloren. Für viele Menschen gibt es keine objektiven Fakten mehr, es bleibt nur noch die Meinung.
Dies wird eine grössere Bedrohung sein als Covid oder der Klimawandel, es kann durchaus unsere Lebensweise zerstören.