Sie sitzt jeden Morgen an der Migros-Kasse. Die Schlange der zahlenden Morgenmuffel scheint nicht enden zu wollen – und trotzdem grüsst sie jeden Einzelnen mit einem herzerwärmenden Lächeln. Und wenn mal wieder einer vergessen hat, sein Gemüse zu wägen, steht sie zügig auf und holt das nach – ohne bösen Blick. Doch egal, wie gut sie ihren Job als Kassiererin macht: Sie ist für die Migros-Gruppe trotzdem 15 Mal weniger wert als eine Angestellte der Migrosbank – zumindest rein finanziell.
Ähnlich geht es den Postautofahrern und den Postboten: Auch sie haben deutlich weniger Anteil am Betriebsgewinn des Postkonzerns als ein Kundenberater bei der Postfinance. In den letzten fünf Jahren trugen die Angestellten der Postfinance im Schnitt 165'946 Franken pro Kopf zum Betriebsgewinn bei. Ein Postautofahrer lediglich 14'233 Franken, ein Postbote 15'844 Franken.
Dass unterschiedliche Branchen unterschiedlich hohe Renditen erzielen, ist nichts Neues. Bei Post und Migros stechen die extremen Unterschiede aber besonders ins Auge, weil diese Unternehmen verschiedene Branchen in sich vereinen: Bei der Postfinance arbeiten acht Prozent aller Angestellten des Postkonzerns – diese waren letztes Jahr für 60 Prozent des Betriebsgewinns verantwortlich. Bei der Migrosbank sind zwei Prozent aller Angestellten der Migros-Gruppe beschäftigt – sie erwirtschafteten ein Viertel des Betriebsgewinns.
Sowohl die Postfinance als auch die Migrosbank bieten eher konservative Finanzprodukte an. Eine Festhypothek bei diesen Instituten unterscheidet sich kaum von einer Festhypothek einer anderen Bank. Im Gegensatz zu einem Pharmaunternehmen, das – im besten Fall – hochinnovative, einzigartige Produkte auf den Markt bringt, differenzieren sich die Angebote der Finanzinstitute nur in Details. Wieso sind die Renditen in der Finanzbranche trotzdem viel höher als in anderen Branchen? Peter Leibfried, Leiter des Lehrstuhls für Audit und Accounting an der Uni St. Gallen: «Die höheren Renditen im Finanzbereich sind eine Folge des freien Marktes. Wenn eine Bank einen Fixkredit vergibt, hat sie das Risiko, Verluste einzufahren, sobald die Marktzinsen in die Höhe schiessen. Deshalb erwarten Investoren höhere Renditen, wenn sie in Banken investieren – und die Konsumenten akzeptieren höhere Gewinne der Banken.»
Anders im Detailhandel: Dort sind die Risiken gemäss Leibfried geringer – denn gegessen werde immer. «Auch in der Grundversorgung mit Postleistungen sind die Risiken geringer. Schliesslich ist es höchst unwahrscheinlich, dass plötzlich keine Güter mehr verschickt werden», so Leibfried. Das führe dazu, dass die Renditen in diesen Branchen tiefer seien.
Ob die Risikoeinschätzung der Märkte richtig ist, kann niemand abschliessend sagen. Leibfried hält es aber für möglich, dass Finanzinstitute wie die Migrosbank oder Postfinance in den letzten Jahren Überrenditen erwirtschaftet haben: «Das kommt daher, dass diese Institute sehr viel Vertrauen geniessen.»
Post und Migros wollen von Überrenditen nichts wissen. Beide sagen, dass sie «marktübliche, vernünftige» Renditen hätten. Auf die Frage, wieso sie sich im Finanzbereich nicht mit ähnlich tiefen Margen zufrieden geben wie in den anderen Geschäftsbereichen, verweist die Post auf die Zielsetzungen des Bundesrats. Denen zufolge muss die Post «in allen Geschäftsfeldern eine branchenübliche Rendite erzielen».
Die Migros wiederum sagt, dass ihre Hypothekar- und Privatkreditzinsen im Branchenvergleich zu den günstigsten zählten. «Als genossenschaftlich geprägte Bank misst die Migrosbank der Gewinnmaximierung nicht die höchste Priorität bei.» (trs)