Schweiz
Bern

Die Berner Polizei ausser Rand und Band? Einsätze gegen Hausbesetzer werfen Fragen auf 

Die Berner Polizei ausser Rand und Band? Einsätze gegen Hausbesetzer werfen Fragen auf 

18.09.2015, 16:0118.09.2015, 16:58
Mehr «Schweiz»
Polizisten der Sondereinheit Enzian bei einer Notfallübung auf dem Flugplatz Bern-Belp. Die Berner Sondereinheit wurde 1972 gegründet.
Polizisten der Sondereinheit Enzian bei einer Notfallübung auf dem Flugplatz Bern-Belp. Die Berner Sondereinheit wurde 1972 gegründet.
Bild: KEYSTONE

Die Spezialeinheit Enzian kommt normalerweise zum Einsatz, wenn schwerwiegende Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder eine Gefahr für Leib und Leben besteht. Beispielsweise bei Geiselnahmen, Amokläufen oder bewaffneten Überfällen. Hausdurchsuchungen in besetzten Räumlichkeiten gehören nicht zu ihren Kerngebieten. 

Eines der besetzten Häuser, das im April und im August durchsucht wurde: Bernstrasse 29a in Ostermundigen BE.
Eines der besetzten Häuser, das im April und im August durchsucht wurde: Bernstrasse 29a in Ostermundigen BE.
bild: screenshot/googlestreetview

In Bern geschah aber genau dies: Die Spezialeinheit Enzian (SE Enzian), eine der ältesten Sondereinsatz-Truppen in der Schweiz, stürmte drei besetzte Häuser, eines davon gleich zwei Mal. Das erste Mal im April dieses Jahres, das zweite Mal im August. Grund für die Stürmung der Häuser – die jeweils in den frühen Morgenstunden durchgeführt wurde – war die Suche nach einer Person, die an einem Farbanschlag auf eine Polizeiwache in Bern zu Beginn des Jahres beteiligt gewesen sein soll. 

Farbspuren zeugen von einem gewaltsamen Zusammenstoss zwischen Unbekannten und der Kantonspolizei Bern bei der Polizeiwache Waisenhaus. Bei dem Anschlag wurde ein Polizist leicht verletzt. (Februar 20 ...
Farbspuren zeugen von einem gewaltsamen Zusammenstoss zwischen Unbekannten und der Kantonspolizei Bern bei der Polizeiwache Waisenhaus. Bei dem Anschlag wurde ein Polizist leicht verletzt. (Februar 2015)
Bild: KEYSTONE

Die Mitglieder der Sondereinheit gingen dabei nicht gerade zimperlich vor. Die Bewohner der besetzten Häuser, die sich in Absprache mit dem Kanton und den Besitzern in den Räumlichkeiten aufhalten, gaben in der WOZ zu Protokoll, sie seien mit Handschellen gefesselt worden. Die Polizei wandte auch sonst einige fragwürdige Mittel an. Eine Auflistung:

  • Handschellen
  • Augenbinden
  • Zerstörung von Türen und Türschlössern
  • Entfernen von Stromsicherungen 
  • Zerstörung von Mobiliar
  • Hausdurchsuchung, ohne dass der Befehl vorgängig den Bewohnern vorgelegt worden wäre
  • Kein Beisein bei der Durchsuchung
  • Einsatz mit gezogenen Waffen, darunter Maschinenpistolen, mit denen auf die Hausbesetzer gezielt wurde
Bern

Der linken Wochenzeitung gelang es auch, mit der gesuchten Person zu sprechen. Ihr Wohnsitz war offenbar an keiner der betreffenden Adressen. Wieso konnte ein Journalist mit einer gesuchten tatverdächtigen Person sprechen, wo diese für die Polizei unauffindbar blieb? Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft antwortete auf die Fragen der WOZ ausweichend: Es habe der Verdacht bestanden, dass die gesuchte Person sich in den durchsuchten Räumlichkeiten aufgehalten habe. Dieser Verdacht reichte als Begründung für den Einsatz offenbar aus.

Sondereinheit Enzian

Einsatz der Sondereinheit Enzian in Bern Bümpliz im Fall des sogenannten «Heilers» 2013.
YouTube/wwwlive1tv

Der Polizeieinsatz wirft weitere Fragen auf: Wieso sagten die Polizisten nicht von Anfang an den Grund für die Durchsuchung? Wieso behandelten sie offensichtlich Nicht-Tatverdächtige wie Schwerverbrecher, indem sie sie fesselten, ihnen Augenbinden aufsetzten? Wieso verweigerten sie ihnen Grundrechte, wie das Beisein bei der Durchsuchung persönlicher Habseligkeiten? Wieso stellten sie keine Quittung für beschlagnahmte Gegenstände aus? Und wieso kamen Mitglieder einer Spezialeinheit zum Einsatz, die üblicherweise bei Einsätzen gegen bewaffnete Personen wie etwa den renitenten Rentner und Waffennarren Kneubühl oder bei der Schiesserei im Pokerclub in Zollikofen aufgeboten werden?

Die Polizei verweist darauf, dass der Einsatz im Zusammenhang mit Strafverfahren zu Gewalt- und Vermögensdelikten erfolgte, «bei denen die Täterschaft ein hohes Gewaltpotential aufwies». Die vorgängige Beurteilung der Gefährdungssituation hätte den Einsatz in diesem Ausmass gerechtfertigt, so ein Sprecher der Berner Polizei.

Der Staatsrechtler Martino Mona, dem die WOZ Aussagen von betroffenen Hausbesetzern vorgelegt hat, spricht von einem unverhältnismässigen Vorgehen – falls die Aussagen der Hausbesetzer denn der Wahrheit entsprächen. 

Mona listet die fragwürdigen Punkte auf:

  • Zwangsmassnahmen wie Augenbinden und Handschellen dürfen bei nicht tatverdächtigen Personen nur mit sehr viel Zurückhaltung angewendet werden.
  • Die betroffenen Personen müssen der Hausdurchsuchung beiwohnen können.
  • Der Hausdurchsuchungsbefehl muss den Betroffenen zu Beginn vorgelegt werden – und von ihnen mit einer Unterschrift bestätigt werden.

Der Pressesprecher der Menschenrechtsorganisation augenauf, Rolf Zopfi, betont, dass er den Fall persönlich nicht im Detail kenne. Aber: Die Praxis, bei Polizeieinsätzen Personen die Augen zu verbinden, ist für ihn ein Unding: «Ich verstehe es ja, wenn die Augenbinde bei gewissen Schwerverbrechern zum Einsatz kommt. Aber bei offensichtlich ungefährlichen Personen ist das meiner Meinung nach schlicht illegal und dient nur dazu, die Personen zu demütigen und schikanieren. Es besteht absolut kein Grund für eine solche Massnahme.»

Die gesuchte Person, bei dem es sich um einen Mann handelt, meldete sich gemäss eigenen Angaben telefonisch bei der Polizei, nachdem er von den Hausdurchsuchungen Wind bekommen hatte. Dort konnte ihm aber niemand weiterhelfen. Einzelne Hausbesetzer vermuten, dass es bei dem Einsatz gar nicht um die bei dem Farbanschlag beteiligte Person ging, sondern dass die Polizei gezielt die Hausbesetzerszene einschüchtern wollte. (wst)

Spezialeinheiten auf der ganzen Welt

1 / 15
Spezialeinheiten auf der ganzen Welt
Polizisten einer belgischen Spezialeinheit posieren in Vollmontur für die Kamera.
quelle: x00380 / yves herman
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Dir gefällt diese Story? Dann like uns doch auf Facebook! Vielen Dank! 💕

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
16 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
KnechtRuprecht
18.09.2015 17:41registriert März 2014
Es wird langsam Augenscheinlich das unsere Polizei in letzter Zeit etwas ausser Rand und Band gerät. Oder bilde ich mir nur ein das sich solche Schlagzeilen extrem häufen? Komischerweise finden solche Aktionen nur gegen Leute statt die keine Lobby haben. Sprich Fussballfans und Linke. Ist halt Top Propaganda. Den Stammtisch freuts.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
poga
18.09.2015 16:47registriert November 2014
Währe interessant zu wissen ob man ein Anrecht hat bei der Durchsuchung dabei zu sein wenn es gar nicht die eigene Wohnung ist. Ich habe erst gerade in einem Kommentar geschrieben dass wenn man z.B. in einen Fanblock geht in dem man weis dass dort Hooligans sind, man sich nicht wundern muss wenn man eventuell an den Pranger gestellt wird. Für mich das gleiche hier. Wenn man ein Haus besetzt sollte man zumindest in Erwägung ziehen dass die Polizei auch härter durchgreift.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
Hierundjetzt
18.09.2015 17:16registriert Mai 2015
Easy. Es wird seinen sehr guten Grund haben. Gähn. Bern halt.

Manchmal bewerfen die Besucher der Reithalle vollbesetzte (!) Linienbusse im Feierabendverkehr mit Brandsätzen und Pflastersteinen, dann wird der Feuerwehr, die ein Brand in der Reithalle löschen will, die Reifen zerstochen, regelmässig gibts Plünderungen und Sachbeschädigungen aus der linksextremen Ecke, da reklamiert auch niemand mehr. Sogar die Juso Bern findet das immer u geil weisch, vou dr shit oder, weisch. Bevor jetzt ein Zürcher mit einer faden Erklärung kommt: Der Bund oder Berner Zeitung in den google eingeben. Voilà
32
Melden
Zum Kommentar
16
Schweizer haben laut Studie nur geringe Medienkompetenz

Die Medienkompetenz der Schweizer Bevölkerung ist laut einer vom Bundesamt für Kommunikation (Bakom) in Auftrag gegebenen Studie nicht sehr hoch. Vielen Befragten fällt es unter anderem schwer, die Kommunikationsabsicht eines Medienbeitrags – ob Information, Kommentar oder Werbung – einzuordnen.

Zur Story