Zürich, Bushaltestelle Glaubtenstrasse. Drei beachtliche Löcher klaffen in der Glasscheibe des Selecta-Automaten. Das Muster erinnert an ein Spinnennetz, ist mit seinen verworrenen weissen Linien fast kunstvoll. Die Strasse führt leicht aufwärts, am Fuss des Käferbergs entlang, der das Quartier Affoltern von der Innenstadt trennt. Hier trifft raue Vorstadtverruchtheit auf idyllische Landromantik. Versprayte Betonwände vor aufgeräumten Schrebergartenhäuschen.
Weiter hinten in der Strasse ein knallrotes Gebäude, an den Seiten das Graffito des Stadtzürchers Lieblingsfussballclubs. Vor dem Jugendtreff stehen vier Elektrotöfflis, weitere werden im Verlauf des Nachmittags dazukommen. In einer Eisenschale brutzelt ein Feuer, rundherum sitzen ein paar Jugendliche, reden, rauchen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppe. Aufs Mal stehen alle auf, drücken die Zigaretten aus, marschieren zur Glastür des Treffs und klopfen ungeduldig. «Seid ihr wieder auf Wanderschaft?», fragt David Meury, einer der Jugendarbeiter, als er ihnen die Tür öffnet. «Wie Nomaden. Hin und her.» Die Jugendlichen lachen und gehen schnellen Schrittes an ihm vorbei, schnurstracks in den Discoraum.
Maja Hernandez, die Stellenleiterin der OJA Affoltern (OJA steht für offene Jugendarbeit), überprüft, ob sich die Jugendlichen richtig eingeloggt haben. Wenn sie hereinkommen, müssen sie sich über einen QR-Code registrieren. Maximal dürfen sich 20 Personen gleichzeitig drinnen aufhalten und weitere 10 draussen an der Feuerschale.
Im Discoraum dröhnt Deutschrap aus Boxen. Farbige Lichter reflektieren in der Spiegelwand und werfen nervöse Schatten auf den Boden. In einer Ecke zusammengequetscht sitzen und liegen sieben 15- und 16-Jährige quer durcheinander auf einem Sofa. Kurz geht die Tür auf, grelles Licht fällt in den Raum. Jugendarbeiter Meury steckt den Kopf rein, schaut, ob alles in Ordnung ist, zieht sich dann wieder zurück und lässt die Jungen allein. Getanzt wird hier drin nicht, nur gechillt. Manchmal gibt es ein kleines Gerangel darum, wer das nächste Lied einstellen darf, aber ansonsten spielt sich das Spannendste hier drin auf den Screens der Smartphones ab.
Mauro* schiebt sich die Brille etwas tiefer ins Gesicht. Der 16-Jährige arbeitet auf Baustellen als Plattenleger-Lehrling. Normalerweise wäre er jetzt vielleicht an der Seepromenade oder an der Langstrasse. Aber seit Corona läuft dort nicht mehr viel. Mit seinen Kumpels hängt er darum an Orten rum, wo sie ungestört abschalten können. Manchmal am Bahnhof Affoltern, manchmal am Waldrand, manchmal hier.
Schon vor Corona war die Stadt für minderjährige Jugendliche nicht unbedingt ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten. Zwischen 14 und 17 Jahren ist man zu jung, um in eine Bar oder in den Club zu gehen und zu alt, um zu Hause bei den Eltern zu hängen. Die Hormone sprudeln, die Identitätsentwicklung läuft auf Hochtouren – doch wohin, wenn wenig erlaubt ist und der Lehrlingslohn für die Teilnahme an der teuren Spassgesellschaft nicht ausreicht?
In den Jugendtreff zum Beispiel. Der Bundesrat bemerkte nach dem ersten Lockdown schnell, dass junge Menschen Orte brauchen, wo sie sich zurückziehen können. Nach den ersten Öffnungsschritten durften im Mai auch die Jugendtreffs wieder aufmachen. Doch das Gleiche wie vor der Pandemie sei es nicht, sagen die Jugendarbeiterinnen von der OJA Affoltern. Nebst den Hygienemassnahmen, die im Treff gelten, habe sich auch das Publikum etwas geändert. Vor allem während der Sommerferien seien Jugendliche aus anderen Orten, sogar aus anderen Kantonen zu ihnen gekommen.
Draussen neben der Wand mit dem FCZ-Graffito, steht Elin*, 16, beherrscht lässig, Nike Air Max, weisse Trainerhosen, schwarzes Top, funkelndes Bauchnabelpiercing, Wimpern so schwarz und lang wie Spinnenbeine. Um sie herum stehen Jungs, alle ebenfalls penibelst im Trainerchic durchgestylt. Bei den wenigen Auftritten, die sich ihnen noch bieten, wird kein Detail dem Zufall überlassen.
Abseits der schäkernden Gruppe, auf einem der parkierten E-Töffs, sitzt Lucas*. Die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen, der Blick aufs Handy.
Drinnen steigt kurzzeitig der Lärmpegel. Die Tür zum Discoraum öffnet sich, Musik dringt in den Nebenraum. Ein Mädchen rennt halb lachend, halb schreiend durch das Entrée, ein Junge ihr hinterher. Er packt sie am Arm, sie wirbelt herum und verpasst ihm mit der Faust ein Tomätli.
Meury schaut dem neckischen Boxkampf kurz zu und mahnt dann: «He, langsam bitte. Nicht dass sich am Schluss jemand weh tut.» Und mehr zu sich selbst: «Die brauchen's ja gerade mega.» Der Bewegungsdrang sei gross, das sei wie ein Ventil, das wegfalle, sagt Meury. Zum Glück seien die Sportvereine für die Jugendlichen wieder offen. Und auch die Midnight-Sport-Events kann die OJA wieder wie gewohnt abhalten. Und doch fehlen den Jungen die verschiedenen Aktivitäten, die Abwechslung.
In der OJA Affoltern ist es an diesem Nachmittag ein nervöses Kommen und Gehen. Immer wieder muss wichtiger Tratsch draussen am Feuer besprochen werden. Dann galoppiert eine ganze Herde Jugendlicher vor die Tür. Wenige Minuten später wollen sie alle wieder rein. Für Einrichtungsleiterin Hernandez gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Sie zählt die Jugendlichen nochmals durch und sagt: «Jetzt sind wir voll. Mehr dürfen nicht rein.» Vor der Tür warten drei jüngere Mädchen. So leid es Hernandez tut, sie müssen warten.
Mauro, der Plattenleger-Lehrling, lässt sich im Entreé auf ein Sofa fallen. Er hat genug vom Discoraum. Er holt sein Handy aus der Hosentasche und zockt irgendein Game. Die Masken nerven ihn, es sei seltsam, dass man immer das Gesicht verstecken müsse. Aber was ihn noch mehr nervt, ist, dass er die Pandemie hindurch auf der Baustelle habe arbeiten müssen. Dass es hiess, alle müssen ins Home-Office, weil man sich sonst mit dem Virus anstecke, nur sie hätten weitergemacht wie ganz normal.
Die unsichere Situation, keine Perspektive auf eine baldige Änderung, wenig Abwechslung, die Jugend, die ihre Jugend verpasst. Einige von ihnen haben vor ein paar Wochen in St Gallen ihrer Wut darüber auf der Strasse freie Bahn gelassen. Schaufenster gingen in Brüche, Kabelbinder zurrten. Auch in Zürich wurde mobilisiert. Via Snapchat wurde der Aufruf verbreitet, man wolle in der Altstadt eine riesige Party feiern. Gekommen sind am Ende aber nur Polizistinnen, Journalisten und einige Gaffer. Die Affoltemer Jugendlichen blieben an jenem Abend zu Hause. Im Treff erklärt es einer so: «Wir haben keinen Bock auf noch mehr Stress mit der Polizei.»
Bei einigen Jugendlichen sei auch die Situation zu Hause belastend, sagt Stellenleiterin Hernandez. Im vergangenen Monat habe sie sechs Fälle erlebt, wo Jugendliche gesagt hätten, sie wollten nicht mehr nach Hause. Manchmal können sie sich mit Freundinnen oder Freunden organisieren und ein paar Nächte auswärts schlafen, bis es sich wieder einrenkt. «In Notsituationen suchen wir mit ihnen nach Lösungen oder begleiten sie ins Schlupfhuus», so Hernandez.
Ein grosses, hageres Mädchen kommt zur Tür rein, macht eine Freundin auf dem Sofa ausfindig und setzt sich zu ihr hin. Um den Hals trägt es ein enganliegendes Tattoo-Halsband, eine Wiederentdeckung der 90er-Jahre. Ilaria* ist 15 Jahre alt und wohnt in Zürich Unterstrasse. Dort laufe aber wenig. Nach Affoltern komme sie, weil sie hier Leute kenne.
*Alle Namen der Jugendlichen wurden zur Wahrung ihrer Privatsphäre geändert.
Für junge Menschen zwischen 15 und 25 mit schwierigem Verhältnis zu den Eltern ist diese Pandemie wahrlich ein besonderer Graus!
Danke Mauro! Du sprichts auch einem doppelt so alten aus dem Herzen!