Die Schweiz befindet sich in einer schwierigen Lage: Von der Musterschülerin in der Coronabekämpfung hat sie sich zu einem Problemkind entwickelt.
Am Mittwoch wird der Bundesrat einschneidende, neue Massnahmen beschliessen, um die Pandemie einzudämmen. Zur Diskussion steht etwa ein Veranstaltungsverbot für mehr als 50 Personen, eine Sperrstunde für Restaurants ab 22 Uhr oder Einschränkungen für den Amateursport. Diese Massnahmen werden lange gelten, sagte Gesundheitsminister Alain Berset gestern bei einem Besuch in Lausanne. Deshalb müssten sie auch gut durchdacht sein. Er reagierte damit auf die Kritik, der Bundesrat lasse sich zu viel Zeit: «Seien wir ehrlich, Panik bringt nichts in dieser Situation.»
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Berset machte auf cool. Die Stimmung in der Landesregierung war allerdings auch schon besser. Dabei geht es weniger um inhaltliche Differenzen: SVP-Mann Ueli Maurer tat sich schon im Frühling schwer mit starken Eingriffen und plädierte dafür, auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen im Blickfeld zu haben.
Viola Amherd (CVP) steht auf der anderen Seite des Meinungsspektrums und gilt eher als übervorsichtig. Mehrheitsfähig war stets ein Mittelweg. So wird es auch am Mittwoch sein. Im Bundesrat gibt es einen starken Grundkonsens: Niemand will einen zweiten Lockdown.
Im Frühling wurden dem Bundesrat gute Noten verteilt, Stresstest bestanden, so das Fazit. Misstöne drangen kaum nach draussen, nebst Gesundheitsminister Berset hatte auch jedes Mitglied eine mehr oder weniger wichtige Funktion in der Krise: Die Wirtschaft retten (Parmelin und Maurer), Schweizer aus dem Ausland heimholen (Cassis), das Funktionieren des Asyl- und Justizwesens auch in der Krise sicherstellen (Keller-Sutter), die Armee sinnvoll einsetzen (Amherd), den Bundesrat führen (Sommaruga).
Jeder hatte seine Aufgabe, das war gut für das Gremium. Mittlerweile stehen nur noch Berset und Bundespräsidentin Sommaruga im Fokus. Und ausgerechnet zwischen den beiden SP-Magistraten herrscht dicke Luft, wie die letzten Tage gezeigt haben. Die Coronamüdigkeit macht auch vor dem Bundesrat nicht halt. Wir zeigen, wo die einzelnen Bundesräte stehen.
Die Verteidigungsministerin drängte zuletzt darauf, dass der Bundesrat einen klaren Plan vorlegt, wie es weitergehen soll: Szenarien, welche Massnahmen je nach weiterer Entwicklung ergriffen werden. Viola Amherd findet offenbar, Bund und Kantone hätten die ruhige Phase zwischen den beiden Wellen nutzen müssen, um eine Strategie für den weiteren Verlauf der Krise festzulegen – was verpasst worden sei. Im Frühling sprach sie sich für harte Massnahmen aus, sie war sogar für einen frühen Lockdown.
Jetzt ist sie, heisst es, allerdings nicht für einen Lockdown, sondern für eine klare, für alle nachvollziehbare Planung. Je nach Entwicklung schliesst diese Planung aber auch einen Lockdown nicht aus. Für einige Mitglieder im Bundesrat ist die Walliserin mit ihrem Drängen überängstlich, beinahe schon alarmistisch. Etwa im Gesundheitsdepartement gibt es die Haltung, die von Amherd geforderten Szenarien seien vorhanden, man trete jetzt in eine neue Phase. Am Mittwoch werde das deutlich gemacht.
Der Wirtschaftsminister spricht nicht öffentlich von einer «Coronahysterie». Er fährt aber grundsätzlich einen ähnlichen Kurs wie Finanzminister und Parteikollege Ueli Maurer: Mit dem Virus leben lernen und nicht die Wirtschaft abwürgen. In der vergangenen Woche hielt das Wirtschaftsdepartement in einer Medienmitteilung fest, die Schweizer Wirtschaft habe sich dank der vergleichsweise frühen Lockerungen schneller und stärker erholt als erwartet. Parmelin drückte dabei im Frühling aufs Tempo.
In der aktuellen Lage will er einen Lockdown verhindern, auch einen kurzen, dies im Einklang mit den Sozialpartnern. Parmelin zeigt Verständnis für flankierende Massnahmen und verbeisst sich nicht in Details, etwa über den Nutzen einer ausgedehnten Maskenpflicht: Wenn sie verhängt wird, soll sie umgesetzt werden. Gewisse Einschränkungen scheint er in Kauf zu nehmen: Lieber Bars und Discos schliessen, anstatt noch einschneidendere Massnahmen zu riskieren.
Vor allem von linker Seite wird Parmelin scharf attackiert, weil die vom Parlament beschlossene Härtefalllösung für stark betroffene Firmen noch nicht steht. Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch hatte angekündigt, dass die Regel erst auf den 1. Februar in Kraft treten könne. In anderen Departementen versteht man diese Ungeduld und fragt sich, ob Parmelin bereit für die Diskussion ist, wie den Unternehmen aufgrund der neuen, verschärften Massnahmen zu helfen ist.
Beim Gesundheitsminister laufen seit Februar alle Fäden zusammen. Er hat im Frühling den Kampf gegen das Coronavirus als Marathonlauf bezeichnet. Ein Bild, das sich inzwischen immer stärker bewahrheitet. Seit Beginn der Pandemie vertritt Berset einen Mittelweg: Er will die Menschen mitnehmen, gewichtet sowohl gesundheitliche wie wirtschaftliche Interessen hoch.
Nachdem er bis im Sommer der eigentliche Krisenmanager der Schweiz war, überliess er das Zepter bis im Oktober weitgehend den Kantonen, so wie es die besondere Lage eben vorsieht. Inzwischen ist der Sozialdemokrat bereit, wieder stärker in den Vordergrund zu treten. Dem Vernehmen nach hält Berset wenig davon, auf Panik zu machen, das Krisenmanagement verlaufe nach Plan. Allerdings hat sein Image in den letzten Wochen gelitten, besonders der «Blick» schoss sich auf ihn ein: «Worauf warten Sie noch, Herr Berset?», titelte das Boulevardblatt am Samstag.
Vieles deutet darauf hin, dass sich eine Konfliktlinie geöffnet hat zwischen den beiden SP-Magistraten: Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga berief am vorletzten Sonntag eine ausserordentliche Bundesratssitzung ein, weil sie der Meinung war, es tue sich zu wenig. Damit verhinderte sie gemäss Medienberichten, dass Berset neue Massnahmen bereits in Kraft setzen konnte. Bundesratsnahe Quellen bestätigen, dass die Abläufe durcheinander gerieten. Das Departement von Sommaruga widerspricht dieser Darstellung schriftlich: «Das UVEK hat sämtliche Schritte mit den direkt involvierten Departementen abgesprochen.»
Im Frühling wurde ihr zuweilen vorgeworfen, dass sie sich als Bundespräsidentin zu sehr im Hintergrund halte. Dabei kommunizierte Sommaruga wohlkalkuliert, mit Sätzen, die bleiben: «Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen!», sagte sie am 16. März. Just sieben Monate später wiederholte sie die Formel: «Es braucht noch einmal einen Ruck.» Sommaruga machte im Bundesrat angesichts der steigenden Fallzahlen Tempo für mehr Massnahmen und nahm sich auch die Kantone zur Brust – etwa den Bündner Finanzdirektor Christian Rathgeb, den bremsenden Präsidenten der Konferenz der Kantonsregierungen.
Zu einem Krisengipfel lud sie nicht nur den obersten Gesundheitsdirektor ein, sondern auch den Präsidenten der Konferenz der Volkswirtschaftsdirektoren – und eben Rathgeb. Ziel der Übung: Dass die Kantone und ihre Regierungen stärker mit einer Stimme reden und dass Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Kantonen geklärt werden. Das «Gschtürm», wer was macht, sollte ein Ende haben.
Nach einer Blitzkonsultation der Kantone konnte der Bundesrat nach einer Notsitzung am Sonntag, 18. Oktober, neue Massnahmen beschliessen. Jeder Tag zählt: Das scheint die Maxime der SP-Magistratin. Dass ausgerechnet die Bundespräsidentin, die das Kollegium führt, in einen Konflikt mit Parteikollege und Gesundheitsminister Berset verwickelt ist, sorgt aber für Stirnrunzeln.
In einem Punkt ist man sich im Bundesrat einig: Ein zweiter Lockdown wie im Frühling soll verhindert werden. Diese Haltung trägt auch Aussenminister Ignazio Cassis voll mit: Nun müsse alles unternommen werden, um ein erneutes Herunterfahren der Wirtschaft zu verhindern. Es gelte, die Interessen der Gesundheit und der Wirtschaft zu berücksichtigen. Das heisst aber auch: Der Tessiner Freisinnige unterstützt die Massnahmen, die Gesundheitsminister Berset nun vorschlägt. Und: Er hätte sich gar ein schnelleres Eingreifen des Bundesrates gewünscht.
Im Gegensatz zu CVP-Kollegin Viola Amherd hat Cassis aber nicht aktiv darauf gedrängt, etwa mit Mitberichten. Der Präventivmediziner und einzige Arzt im Regierungskollegium – er war Tessiner Kantonsarzt – teilt aber, so wird kolportiert, Amherds Einschätzung, dass der Sommer zu wenig genutzt worden sei, um sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Angesichts der schwierigen Situation ist es Cassis wichtig, dass der Bundesrat nun geeint auftritt, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Als es im Frühling ernst wurde, war der SVP-Finanzminister sofort zur Stelle. Er schlug im Departement vor, 40 Milliarden bereitzustellen für Covid-Kredite. Damit erntete er ungläubiges Staunen: Es brauche 2000 Personen, sogar die Armee, um die Gesuche zu prüfen. Maurer involvierte die Banken – eine Lösung, die international beachtet wurde.
Maurer ist jener Bundesrat, der nach dem Lockdown am konsequentesten für Öffnungsschritte war. Es war stark sein Verdienst, dass Fussball- und Eishockeyspiele wieder mit Zuschauern auf zwei Dritteln der Sitzplätze stattfinden konnten, zumindest phasenweise. Heute betont Maurer, der Bund könne nicht nochmals 30 Milliarden bereitstellen. Neben der Gesundheit gelte es in der Krise auch die Pfeiler Wirtschaft und Gesellschaft zu beachten, sagte er an der SVP-Delegiertenversammlung. Besonders stark warnte er vor den Auswirkungen auf die Menschen.
Viele seien verunsichert und gehässig, hätten den Eindruck, sie dürften die Wahrheit nicht mehr sagen. Ausgrenzung aber sei in einer Demokratie ganz gefährlich. In einem Interview mit der «Schweiz am Wochenende» warnte er kürzlich davor, wegen Corona in eine Hysterie zu verfallen.
Karin Keller-Sutter nimmt im Bundesrat eine Mittelposition ein. Im Frühling war sie für den Lockdown, wehrte sich aber gegen eine Ausgangssperre. Einen Antrag des freisinnigen Parteikollegen Ignazio Cassis, die Läden in der Schweiz frühzeitig wieder zu öffnen, unterstützte Keller-Sutter im April nicht – sodass Cassis im Bundesrat alleine dastand.
Die Justizministerin will nun einen zweiten Lockdown unbedingt verhindern. Wie man hört, ist sie für eine Ausweitung der Maskentragepflicht. Unklar ist, wie sie zum Plan steht, grössere Veranstaltungen im ganzen Land wieder zu verbieten. Keller-Sutter ist für neue Massnahmen gegen die Pandemie; diese müssten von der Bevölkerung aber auch akzeptiert und umgesetzt werden.
Der Bundeskanzler stimmt nicht mit an den Sitzungen, hat als Stabschef aber eine wichtige Funktion. Er verantwortet das Covid-Gesetz, mit dem die Notmassnahmen in ordentliches Recht überführt worden sind.
Das wäre wohl viel zu alarmistisch gewesen, gäll Ueli? (Sarkasmus off)
Für Alle in der Kultur und Eventbranche die sich wirklich ins Zeug gelegt haben um Konzepte zu gestalten bleibt die Unsicherheit und der Pleitegeiler.
Schaffen und Konsumieren scheint man noch zu dürfen, dann aber wieder heim ins Bett!