Wütend, betrogen und machtlos – so fühlen sich die zwei Bewohner der alten Küngenmatt-Siedlung im Heuried.
Wütend, weil man sie aus ihrem Zuhause vertreibe. Betrogen, weil sich Politikerinnen und Politiker nicht für sie einsetzen würden. Und machtlos, weil ihnen der Credit Suisse Immobilienfonds unantastbar erscheint.
Der CS-Immobilienfonds «Living Plus» plant seit mehreren Jahren ein neues Bauprojekt: Küngenmatt-Quartier.
Die Baueingabe ist für diesen August geplant, im Sommer 2028 sollten die ersten Mieter einziehen. In der Theorie scheint das Projekt zu funktionieren: Mehr Wohnraum für junge Familien, die 108 vorwiegend 2-Zimmerwohnungen würden mit 149 neuen ersetzt, 20 davon seien für Senioren konzipiert und das Projekt basiere auf einem nachhaltigen Baukonzept, das schreibt der CS-Immobilienfonds auf der Website.
Doch in der Praxis hat die Sache einen grossen Haken: Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner der Mehrfamilienhäuser, die abgerissen werden sollen, müssen ausziehen. Diese leisten nun Widerstand. Sie sammeln Unterschriften für ihre Petition «Wir bleiben im Heuried» und sind der aktivistischen Gruppe «CS-Immobilien enteignen» beigetreten.
watson hat mit zwei Mietern gesprochen, die in der Küngenmatt-Siedlung wohnen: Susanne Haug (79) und Andrea Dignoes (66).
Am 2. Mai 2022 erreichte Susanne Haug die Hiobsbotschaft – per 30. April 2025 muss sie ihr Zuhause verlassen. Wohin sie ziehen wird, das weiss sie bis jetzt noch nicht. Haug sagt: «Im ersten Moment hoffte ich, dass ich bis zum Tag des Abrisses die Rüebli von unten sehen werde. Das klingt hart, aber das war wirklich so.»
Seit 1968 wohnt Haug in der Siedlung, in ihrer aktuellen Wohnung seit 2004. «Das ist meine Heimat seit bald 60 Jahren! Sie zu verlassen, fühlt sich an, wie entwurzelt zu werden. Ich will nicht gehen», sagt die Rentnerin.
Für Haug kam die Kündigung völlig überraschend: «Die Häuser sind in einem guten Zustand. Vor 17 Jahren bekamen wir eine neue Küche und ein neues Bad. Das Haus wurde saniert und vor drei Jahren haben sie die alten Ölheizungen mit Gasheizungen ersetzt.»
Auch in puncto Nachhaltigkeit habe sich etwas getan: «Vor drei Jahren wurden ebenfalls Solarpanels auf den Dächern befestigt. Es ist darum völlig hirnverbrannt, dass man diese Häuser abreisst», beschwert sich Haug.
Entgegen der Meinung von Haug sieht der CS-Immobilienfonds Handlungsbedarf. Andreas Kern von der Credit Suisse Media Relations schreibt auf Anfrage von watson: «Einerseits ist die Liegenschaft über 80 Jahre alt und müsste in naher Zukunft umfassend saniert werden. Andererseits können auf der gleichen Fläche 41 zusätzliche Wohnungen geschaffen werden, was zur Linderung der Wohnungsnot in der Stadt Zürich beiträgt. Zudem wird der Neubau nach dem Minergiestandard erstellt und der ökologische Fussabdruck der Siedlung deutlich verbessert.»
Genauso bedrückt, aber weniger überrascht, war Haugs Nachbar Andrea Dignoes über die Kündigung. Er sagt zu watson, dass er davor einige Beobachtungen gemacht hatte, die ihn skeptisch werden liessen: «Immer wieder kamen Männer vorbei, die alles ausgemessen haben. Ich fand das merkwürdig. Sie sagten mir, dass sie die Bäume messen würden, das habe ich aber nicht geglaubt und dachte mir: ‹Hier geht irgendetwas.› Leider musste ich recht behalten.»
Der CS-Immobilienfonds schreibt, dass die aktuellen Mieterinnen und Mieter im Rahmen eines umfassenden Supportkonzepts mit diversen Massnahmen unterstützt würden. Dazu zählen: persönliche Beratung, Angebote für passende Ersatzwohnungen, verkürzte Kündigungsfristen und Vorrang für eine Mietwohnung im Neubau.
Haug jedoch sagt: «Unterstützung heisst für diese Menschen, dass sie uns immer und immer wieder anrufen und uns überzeugen wollen, doch eine Wohnung in dem Neubau zu mieten. Aber ich möchte das nicht.» Sie fügt an: «Ich bin alt, aber ich bin weder dumm noch dement.» Der CS-Immobilienfonds nahm zu dieser Aussage gegenüber watson keine Stellung.
20 seniorengerechte Wohnungen sind geplant – das könnte doch eine Option sein für Haug und Dignoes, habe es geheissen. Doch die beiden fühlen sich schlecht informiert: «Man sagt uns nichts über die Grösse und den Preis der neuen Wohnung», beschwert sich Haug.
Die Antwort sei lediglich: zum «marktüblichen Mietpreis», worunter sich die zwei Pensionierten nicht viel vorstellen könnten. «Wir haben eine kleine Rente und die Miete wird sicher um ein Vielfaches teurer – wir können uns das schlicht nicht leisten», ist Dignoes überzeugt. Gegenüber watson kommuniziert der CS-Immobilienfonds ebenfalls keine genauen Mietpreise.
Haug ergänzt: «Selbst wenn diese Wohnungen toll und preiswert würden: Ich gebe der CS doch nicht noch mehr Geld, die haben schon Milliarden. Das ist jenseits von Gut und Böse.»
Das Ganze ist aber komplizierter: Vom Geld profitieren die Anleger des CS-Immobilienfonds, mehrheitlich Personalvorsorgeeinrichtungen. Diese wiederum sind auf Renditen angewiesen, um die Rente der Menschen in der Schweiz bezahlen zu können.
Für beide sei klar: Obwohl sie schon seit vielen Jahrzehnten in der Stadt Zürich leben, sehen sie, sollten ihre Wohnungen abgerissen werden, keine Zukunft mehr in der Stadt.
Das sei die Stadtregierung, die eine solche Politik vorantreibe, wirft Dignoes ein. Die beiden haben eine klare Haltung zu den verschiedenen Exponenten, die von der zunehmenden Gentrifizierung profitieren würde. Es ginge immer nur um die Rendite, so die beiden. Die Stimmung im Gespräch wird rauer – aber auch echter.
Laut den zwei Pensionierten sei nur eine volksnah und gebe denen, die nicht gehört würden, eine Stimme: die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. Sie wirkt auch in einem Video mit, welches auf der Website der Petition «Wir bleiben im Heuried» veröffentlicht wurde.
Ihr Name fällt im Gespräch mit den zwei Senioren auffällig oft. Sie ist nahezu eine Heldin für Dignoes: «Sie ist die Einzige, die uns unterstützt.»
Haug ergänzt: «Frau Badran hat Rückgrat. Das ist eine von den wenigen Politikerinnen, die noch ehrlich ist und sagt, was Sache ist. Eine solche Person ist natürlich ungemütlich für die, die Profit schlagen wollen, aber in meinen Augen ist sie eine tolle Frau.»
Für Dignoes war der CS-Crash exemplarisch für das, was in der Schweizer Politik falsch laufe: «Wir sehen es immer wieder. Niemand will Verantwortung übernehmen. Was die PUK jetzt noch macht, ist völlig egal – es ist zu spät für alles.»
Er sagt weiter: «Die CS hat jahrelang eine Misswirtschaft betrieben, man hätte das doch alles schon viel früher herausfinden sollen. Diesem riesigen Konzern hilft man und spricht Milliarden von Franken und den kleinen Bürger vergisst man.»
Haug nickt zustimmend. Sie ergänzt: «Ich habe über 30 Jahre lang auf freiwilliger Basis als Sterbebegleiterin gearbeitet. Ich kann diese Politik und die Gier gewisser Menschen nicht verstehen. Mann kann nicht in zehn Häusern gleichzeitig wohnen oder mit zehn Autos gleichzeitig fahren und das Geld kann man am Schluss auch nicht essen – was soll also das Ganze?»
Sie sagt nachdenklich: «Die reichen Menschen hatten fast am meisten Mühe mit dem Sterben, denn sie mussten ihren irdischen Besitz abgeben. Auf dem Sterbebett fallen alle Masken – deshalb mussten sie da zum ersten Mal authentisch werden. Das versuche ich auch, diesen Menschen zu vermitteln, ob es ankommt, weiss ich nicht.»
Haug hat noch eine Strategie, um den Abbruch ihres Zuhauses zu verhindern: Sie habe dem CS-Verwaltungsrat mehrere Briefe geschrieben – und zwar eingeschrieben. An den ehemaligen CS-CEO Ulrich Körner, der nun Mitglied der UBS-Konzernleitung ist, und den UBS-CEO Sergio Ermotti seien ebenfalls Briefe versendet worden und auch an den Gesamtbundesrat habe sie sich schon schriftlich gewendet.
Haug ist sich sicher: «Irgendwer wird sich noch bei mir melden und sich um unser Anliegen kümmern.» Haug hat eine weitere Idee: Sergio Ermotti solle die Überbauung an die Stadt oder eine gemeinnützige Organisation verkaufen, dann wäre er eine Altlast der CS los.
Dignoes steht Haugs Briefkorrespondenz skeptisch gegenüber, er sagt enttäuscht: «Die werden keine Stellung nehmen.»
Haug entgegnet: «Wart ab, ich habe doch gerade erst geschrieben. Du wirst das dann schon noch sehen.»
Dignoes wirkt desillusioniert. «Alles wird gentrifiziert und die Menschen werden vertrieben – aber niemand unternimmt etwas. Wir sind lange nicht die einzigen in der Stadt, die sich von existenziellen Ängsten bedroht sehen. Immer mehr und grösser und weiter wollen die Politiker. Aber niemand weiss, wohin. Und: Wir werden nicht einmal gefragt, ob wir das alles wollen», so Dignoes.
Dignoes zieht seine Schlüsse: «Es ist traurig, aber für mich ist keine Partei mehr wählbar.»
Haug stimmt zu: «Für mich auch nicht. Ich vertraue keiner Partei mehr. Es geht immer nur um Geld und um Macht.»
Dignoes entgegnet: «Bei mir geht es auch um Geld und um Macht. Ich kann nicht hier bleiben, weil ich die Macht nicht habe und ich habe auch das Geld nicht. Leider funktioniert dieses Prinzip in beide Richtungen – auch auf der Verliererseite.»
Die zwei Senioren diskutieren eine Weile weiter, über verschiedene Themen, einmal geht es um die Gleichstellung, um den ersten Frauenstreik, dann über eine Nachbarin und dann wieder darum, dass die Politik sie vergessen habe und es doch immer nur ums Geld ginge.
Haug schliesst das Gespräch mit einer finalen Bezugnahme auf die Endlichkeit des irdischen Lebens: «Diese Männer in ihren schicken Anzügen denken alle, dass sie unsterblich sind. Sie haben den Realitätsbezug verloren. Jeder CEO sollte als Sterbebegleiter einmal einem Menschen am Sterbebett beistehen, das würde ihre Ansicht ändern – da bin ich mir sicher.»