Flora kniet in der Küche unter der Spüle und versucht den Wasserhahn von unten zu lösen.
Sie fragt: «Kann ich den eigentlich haben? Der in meinem Atelier tropft.»
Tobias sagt: «Ich könnte den auch brauchen. Der bei meinen Eltern wackelt.»
Flora: «Möchtest du stattdessen den Seifenspender haben?»
Tobias: «Für den habe ich keine Verwendung.»
Am Ende wird Flora den Wasserhahn mit heimnehmen.
Flora Bühlmann und Tobias Häusermann gehören zur GmbH Bau-Teilen, zusammen mit Katharina Riedl und Kas Dedden. In einem Einfamilienhaus in Uster bauen sie eine Küche aus, die sie woanders wieder einbauen werden.
Damit wollen sie dem Wegwerfwahn in der Baubranche entgegenwirken. Bauabfälle machen in der Schweiz 84 Prozent aller Abfälle aus. Im Schnitt sind das 75 Millionen Tonnen pro Jahr, 500 Kilogramm pro Sekunde, also mehr als man sich vorstellen kann.
Das Meiste davon müsste nicht in der Mulde landen.
Im Einfamilienhaus in Uster soll eine neue Küche rein, einfach so, mit neuen Geräten, sandfarbenen Fronten und Lichtspots an der Decke. Vom Alten wird nichts wiederverwendet.
Die Küche ist zwanzig Jahre alt, die Geräte sind fünfjährig und funktionieren. Kas sagt: «Die Geräte hätten sie wieder einplanen und einbauen können, aber darauf kommen die meisten nicht, weil sie es nicht kennen. Also nehmen sie ein weisses Blatt und zeichnen und kaufen alles neu.»
Kas ist Zimmermann, Flora, Katharina und Tobias sind Architektinnen und Architekt. Sie beteiligen die Bevölkerung an ihren Prozessen, geben ihr Wissen in Workshops weiter und bemühen sich um Wiederverwendung: Aus der Küche in Uster zum Beispiel kommen die Steinplatte und Spüle in ein Ferienhaus in Arvenbüel und die Kochinsel voraussichtlich in eine Genossenschaft in Winterthur. Der Rest steht im Lager in Zürich.
Eigentlich wollen sie nur etwas ausbauen, wenn sie auch wissen, wo sie es wieder einbauen. Etwas ewig einlagern wollen sie nicht, dafür gibt es Bauteilbörsen. Tobias sagt: «Aber klar, wenn am Ende noch Sachen herumstehen und wir noch Platz im Auto haben, nehmen wir sie mit. Oder wir sind auf einer Abrissbaustelle sind und haben nur einen Tag für den Ausbau. Dann gilt einfach: Einladen, einladen, einladen.»
Was sie nicht verwenden, vermitteln sie in einem Chat auf Telegram weiter: Fenster mit Stahlrahmen innen weiss, 4 Stück; Deckenpaneele Metall weiss gelocht, 5 Stück; Türe mit Stahlrahmen innen grau, 1 Stück. Immer mit Abholfrist und Foto.
Flora meldet sich von unter der Spüle zu Wort: «Eigentlich müsste Material eine Mindestnutzungsdauer haben. Wird es vorher ausgebaut, ist die Besitzerin oder der Besitzer dafür verantwortlich, dass es bis zum Ablaufdatum im Umlauf bleibt.»
Warum das wichtig wäre? In jedem Bauteil steckt sogenannte graue Energie, die durch dessen Herstellung, Transport, Entsorgung entsteht. Wird bei einem Abriss alles weggeworfen statt weitergegeben und wiederverwendet, geht viel Energie verloren.
Beispiel Zement: Um diesen herzustellen, braucht es Temperaturen bis zu 1450 Grad, die durch das Verbrennen von Gasen erreicht werden, weswegen die Zementindustrie weltweit bis zu 8 Prozent der Treibhausgasemissionen verursacht und als «Klimakiller» gilt.
Katharina versucht eine rote Glasplatte von der Wand zu lösen und sagt: «Verklebt, verdammt! Ich bin für ein Klebeverbot auf Baustellen. Die Baubranche muss anfangen, beim Einbau an den Ausbau zu denken, also zirkulär zu bauen. Das heisst zu klotzen statt zu kleben oder zu schrauben statt zu nageln, damit es sich danach leichter lösen lässt. Und am besten alles so anbringen, dass es sichtbar ist. Sonst müssen wir alles zerstören, wenn wir zur Wiederverwendung etwas entnehmen wollen.»
Katharina murkst weiter.
Anderer Akteur: Andreas Haug sitzt auf einer blauen Bank bei den ehemaligen SBB-Werkstätten an der Hohlstrasse in Zürich. Das Baubüro in situ, bei dem er als Architekt arbeitet und zur Geschäftsleitung gehört, hat hier seinen Sitz. Dieses tut seit Jahren das, womit sich viele in der Branche gerade erst anfangen auseinanderzusetzen: klimafreundlich bauen.
Das bedeutet im Grunde, gar nicht neu zu bauen, sondern den Bestand zu sanieren, anzubauen und aufzustocken und dabei wiederzuverwenden, was da ist, oder zu benutzen, was nachwächst.
In Winterthur hat in situ ein bestehendes dreistöckiges Gebäude um drei zusätzliche Stockwerke mit Atelier- und Werkräumen erweitert und dafür zu 70 Prozent gebrauchte Elemente verwendet – ein Gebäude aus Bauabfällen also, oder eben nicht.
Die «Bauteiljagd» stand dort am Anfang des Bauprozesses und war sehr zeitintensiv – auch, weil die dafür nötigen Abläufe erst erfunden werden mussten.
Haug sagt: «Die Baubranche ist nicht darauf ausgerichtet, dass die Form dem bereits vorhandenen Material folgt. Der Zahlungsplan der Bauherrschaft ist zum Beispiel nicht darauf ausgelegt, dass sie die wiederverwendeten Fenster aus einem Abbruchobjekt kaufen müssen, bevor sie die Baueingabe machen.»
In Winterthur wurden Stahlstruktur, Stahltreppe, Fenster, Fassadenplatten, Fassadenbleche und Solarpaneele woanders abgegriffen, wo sie sonst ausrangiert worden wären, und wiederverwendet. Damit konnten die CO₂-Emissionen um 60 Prozent gesenkt werden. Für seine Pionierarbeit erhält das Baubüro in situ aktuell viel Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Haug sagt: «Das CO₂, das wir damit eingespart haben, ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Umso wichtiger ist es, dass das Projekt Preise gewonnen hat und darüber geschrieben wurde. Es geht darum, zu zeigen, dass es möglich ist – Statements zu setzen. Wir verstehen unsere Arbeit da auch politisch.»
In der Schweiz werden pro Jahr bis zu 4000 Gebäude abgerissen, was täglich mehr als 10 Stück sind. In der Stadt Zürich ist die Abrissbirne besonders aktiv. Dort wurden in den letzten zwanzig Jahren 13’695 Wohnungen abgebrochen – mehr, als es im Kanton Appenzell Innerrhoden insgesamt gibt!
Der Verein Countdown 2030 will den Abrisswahn in der Schweiz stoppen und während zehn Jahren über die Auswirkungen der Architektur auf den Klimawandel aufklären – in der Hoffnung, die Kipppunkte abzuwenden, die am Ende dieser Dekade drohen. Bis zu 60 Architektinnen und Planer haben sich seit 2019 zu diesem Ziel zusammengeschlossen.
Darunter auch Jérôme Glaser und Rahel Dürmüller. Sie machen mit, weil sie als Planer und Architektin mehr Einfluss haben statt als Privatpersonen. Geht es ums Klima, wird viel über Autofahren, Fliegen, Fleischkonsum, Kohlekraftwerke und Plastiksäckli gesprochen, aber wenig über Bauen.
Dürmüller sagt: «Dass Fliegen umweltschädlich ist, wissen alle, aber nicht, wie sehr sich ein Abriss auf das Klima auswirkt. Dabei macht der Flugverkehr weltweit nur 3 Prozent der CO₂-Emissionen aus. Das Bauen und Wohnen hingegen ist für 38 Prozent verantwortlich! Darum: ohne Bauwende keine Klimawende.»
Er arbeitet bei Glaser Baupartner und sie bei Standke Architekten. Die beiden Büros befinden sich in einer ehemaligen Schreinerei in Basel. Der Boden dort hat Farbflecken, die Decken und Wände sind roh, die Holzfenster wurden zusätzlich verglast, aber nicht ersetzt.
Zwischen den Büros wurde gerade eine Glaswand gebaut. Die Fenster dafür haben sie in der Bauteilbörse gekauft. Sie sind zu wenig hoch und zu wenig lang, sodass der Raum dazwischen mit Holz ausgefüllt werden musste. Das lässt erahnen, welch' andere Ästhetik klimafreundliche Architektur womöglich mit sich bringen wird: Bricolage statt Beton.
Das ist das, was ihre Vereinskollegin Sarah Barth zum SRF sagte: «Die Schweiz liebt es sauber [und sleek], muss sich nun aber neue Sehgewohnheiten aneignen. Wir haben mit dem Klimawandel ein so dominantes Problem, dass wir nicht mit der bestehenden Ästhetik weitermachen können.»
Doch bevor sich die Schweizerinnen und Schweizer mit Ästhetik auseinandersetzen, müssen sie ihren Abrisswahn ablegen. Dürmüller sagt: «Im Vergleich zu Deutschland und Österreich wird das Wort ‹Ersatzneubau› in der Schweiz inflationär benutzt. Das zeigt, wie sehr es in den letzten zehn bis zwanzig Jahren hierzulande zur Gewohnheit geworden ist, Altes abzureissen und mit Neuem zu ersetzen.»
Woher kommt dieser Wahn? Ein vehementer Verfechter von Ersatzneubauten ist der Baumeisterverband. Auf dessen Webseite steht: «Ersatzneubau ist das Zauberwort! Neubauten sind energetisch effizienter als Gebäude, die beispielsweise vor 1980 gebaut wurden. Sie verbrauchen im Vergleich vier- bis siebenmal weniger Energie.»
Klar, ein altes Gebäude ist schlecht isoliert, wird mit Öl oder Gas geheizt und verbraucht entsprechend viel Betriebsenergie (nicht graue Energie). Ein Ersatzneubau mit Minergie-Standard schneidet da deutlich besser ab. Aber eben nur auf den ersten Blick.
Dürmüller sagt: «Isolierung und Heizung können bei einer Renovation gut gelöst werden. Es ist zu bedenken, dass heute ein neues Gebäude zu bauen ebenso viel Energie verbraucht wie es während 60 Jahren zu betreiben, der durchschnittlichen Lebensdauer eines Gebäudes in der Schweiz.»
Der Baumeisterverband argumentiert auch mit Verdichtung. Dank Ersatzneubauten würden mehr Wohnungen auf gleicher Fläche entstehen, was sich positiv auf die Preise auswirken könne. Dazu Dürmüller: «Mehr Wohnungen heisst aber nicht zwingend mehr Bewohnerinnen und Bewohner. Ersatzneubauten lösen die Wohnungsnot nur bedingt. Die neuen Mieten sind oft teurer. Und der durchschnittliche Flächenverbrauch steigt in der Schweiz stetig an. Während Familien oft in kleinen Wohnungen wohnen, leben Einzelpersonen in Einfamilienhäusern. Es ist also auch eine Verteilfrage, die man über weniger durchschnittlichen Wohnraum pro Person regeln könnte.»
Neben Fehlannahmen gibt es auch Fehlanreize, die dem Abrisswahn zugrunde liegen: Es lässt sich damit gutes Geld verdienen. Zum einen ist das Honorar der Architektin oder des Architekten an die Bausumme geknüpft. Zum anderen lässt sich ein Abriss von den Steuern absetzen.
Glaser sagt: «Unter diesen Bedingungen bleibt Bauen am Bestand leider oft eine ideologische Entscheidung. Sparen tut man dabei selten, da die Lohnkosten höher sind als die Materialkosten. Darum muss der Abriss massiv verteuert werden, indem er beispielsweise über eine CO₂-Steuer besteuert wird, die auch die graue Energie einbezieht, die durch die Entsorgung vernichtet wird.»
Das und anderes forderte der Verein Countdown 2030 vergangenes Jahr in einer Petition. Vielleicht stimmen wir darüber ja als Nächstes ab.
Etwa vor vier Jahren besuchte ich mit einer Klasse Berufsschule eine Schredder-Fabrik in der Nähe von Bern. Als der Betrieb öffnete standen innerhalb von 15 Minuten drei 3 ,5 t Lieferwagen eines bekannten Küchenbauers und sonstigen Geräte-Vertreibers aus unserem Land vor Ort. Die Mitarbeiter „entsorgten“ neue, original verpackte Computer und ebenfalls eine neue Küche, welche an einer sehr bekannten Gewerbe-Ausstellung in Bern ausgestellt war (inkl. den Geräten) !