In seiner rechten Hand hält Daniel Graf die Gabel, mit seiner linken gestikuliert er wild in der Luft. Seinen Vorspeisesalat hat er erst bis zur Hälfte fertig geschafft, der Reis mit Gemüse ist längst kalt. Vor jedem Bissen kommt ihm etwas Wichtiges zuvor, das es auszuführen gilt. «Ich ess' dann schon noch», sagt er, als er den verstohlenen Blick der Reporterin auf seinem Teller sieht. Doch dann holt der 45-Jährige wieder aus, erklärt, grüsst zwischendurch einen Bekannten am Nebentisch und wechselt zurück zu seinem Lieblingsthema: Digitale Demokratie.
Graf ist vieles: Kommunikationsberater, Medienprofi, Netzaktivist. Vor allem ist er ein Rastloser, ein Getriebener, einer, der in hohem Tempo vorprescht und anderen das Gefühl gibt, ständig etwas zurück zu liegen. Sein psychisches Profil beschreibt Graf so: «Ich bin nie im Jetzt, sondern immer vier Sekunden voraus. Deswegen ziehe ich nach vorne, ich bin ja immer schon da.»
Es sind diese Eigenschaften, die Graf antreiben, die ihn an den Punkt bringen, an dem er heute steht: Er ist Co-Kampagnenleiter beim Referendum gegen die Sozialdetektive, über das die Schweizer Stimmberechtigten am 25. November befinden. Hinter Graf steht keine Partei, sondern Bürger, die sich über das Internet zusammengefunden haben. Zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte kommt es aufgrund einer digitalen Mobilisierung zu einer Abstimmung. Das ist einzigartig.
Im Frühling 2016 gründete Graf Wecollect, eine Internet-Plattform, über die im Netz Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden gesammelt werden können. Der Vorgang ist simpel: Wer ein politisches Geschäft unterstützen will, kann den Unterschriftenbogen einfach ausdrucken, signieren und per Post einsenden.
Grafs Vision war, anstatt dem mühsamen Sammeln von Unterschriften auf der Strasse in kurzer Zeit eine grosse Masse über das Internet zu mobilisieren und so tausende Unterschriften zu sammeln. «Normale Bürgerinnen und Bürger erhalten so ein Instrument, sich direkt und einfach an demokratischen Prozessen zu beteiligen», sagt Graf. Theoretisch. Doch in der Realität war seine Idee zwar gut, interessierte anfangs aber kaum jemanden. Wie so oft war er zu schnell, zu früh.
Heute, zweieinhalb Jahre nach der Gründung von Wecollect, ist das anders. Graf und seine Plattform kann heute keiner mehr ignorieren. Im Frühling dieses Jahres sprach sich das Parlament für ein Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten aus. Dieses sollte ermöglichen, dass Bezüger von Sozialhilfe, IV-Rentner, Arbeitslose und Unfall- und Krankenversicherte bei Verdacht auf Missbrauch durch Detektive observiert werden können. Die Versicherungen selbst könnten die Observation veranlassen und dabei Bild- und Tonaufnahmen machen. Eine richterliche Genehmigung bräuchte es nur für GPS-Tracker, die an Autos angebracht werden.
Mit dem jungen Internetaktivisten Dimitri Rougy baute Graf ein Netzwerk für das Referendum auf. Über Wecollect und Sammelaktionen auf der Strasse konnte der lose Zusammenschluss in kurzer Zeit tausende Unterschriften sammeln, nach hundert Tagen hatte er 56'000 zusammen. Graf sagt: «Für mich bedeutete das: Jetzt ist Wecollect referendumsfähig. Das ist gross.» Gross, weil Graf mit Wecollect die politischen Machtverhältnisse verschiebt. Weg von den Parteien, hin zu den Bürgern.
Schon in der Kantonsschule Bülach (ZH) war Graf derjenige, der zog, Aktionen plante, bei den Demos mit den Medien sprach. Politisiert habe ihn, als Neonazis im Zürcher Unterland Brandsätze auf Asylheime warfen. Während der grossen Anti-Globalisierungsbewegung in den 90er-Jahren wurde seine WG zum Schlafplatz für zwanzig Personen aus ganz Europa. Sie reisten gemeinsam nach Davos, um gegen das Weltwirtschaftsforum zu demonstrieren.
Graf organisierte Guerilla-Aktionen, lernte, wie man medienwirksam Werbung für die eigene Sache macht. Taktiken, derer sich auch heute noch gerne bedient. So kopierte das Referendumskomitee gegen Sozialdetektive kürzlich Werbeplakate von Krankenkassen und verfälschten diese mit eigenen Botschaften und Bildern.
Die Möglichkeiten des Internets entdeckte Graf an der Universität. In Zürich und Berlin studierte er Geschichte. In einem Keller an der Zürcher Rämistrasse gab es einen Computer-Raum, wo er jede Minute seiner Freizeit verbrachte. «Ich war es oft, der meinen Freunden das Netz erklärte.» Unter den Aktivisten war er einer der Ersten mit eigenem Modem, später kaufte er sich auf dem Schwarzmarkt ein Iphone, eröffnete Social-Media-Accounts. Während sich andere langsam an die neuen technologischen Möglichkeiten herantasteten, war er immer schon einen Schritt weiter, kannte das Gerät bereits und fragte sich, wie er für die Politik nutzen kann.
Nebst dem Versicherungsdetektiv-Referendum werden derzeit auch für die Korrektur-Initiative gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer und für ein Referendum gegen den AHV-Steuer-Deal Unterschriften über Grafs Plattform gesammelt. Was bedeutet es, wenn bei politischen Geschäften künftig über das Internet interveniert werden kann? «Dass es eine neue Art von Demokratie geben wird», sagt Graf. Das ist etwas, auf das er mit Überzeugung hinarbeitet. Behörden und Parlamente müssen Macht abgeben, findet er. «Die Zeit der grösseren Partizipation für alle ist gekommen.»
Mehr Macht dem Volk, also. Ob das gut gehen kann? Welch pessimistische Frage, findet Graf. «Je mehr Macht wir den Bürgern geben, desto stabiler ist die Demokratie. Das Risiko, dass eine Regierung ein Land an die Wand fährt ist viel grösser, aber es sind selten die Bürger, die das tun.» Ginge es nach ihm, so würde er am liebsten eine Initiative für digitale Volksrechte lancieren, mit der das E-Collecting, also das Signieren über das Smartphone, eingeführt würde und bei der noch mehr partizipative Plattformen geschaffen würden.
Gewinnt Graf mit seinem Komitee am 25. November die Abstimmung, käme das einer Sensation gleich. Nicht nur, weil Bundesrat und eine Mehrheit im Parlament dem neuen Gesetz zustimmen. Auch wäre es das erste Mal, dass eine Internet-Gemeinschaft eine Abstimmung erzwungen hat und diese gewinnt. Verliert Graf, fände er das auch nicht so schlimm. «Mir geht es nicht nur darum, zu gewinnen. Mir geht es darum, eine schlagkräftige Demokratiebewegung aufzubauen», sagt er.
Und was tut der Rastlose, wenn er gerade nicht im Internet surft, den nächsten Angriff plant, Medien mit Guerilla-Aktionen verwirrt? «Dann bin ich zu Hause bei meiner Familie.» Mit seiner Frau, einer Lehrerin, und den fünf- und achtjährigen Söhnen wohnt er in Basel. Eigentlich sollte er jetzt mit ihnen in Sardinien in den Ferien sein. Doch als das Referendum gegen die Sozialdetektive zustande kam, war klar, dass bis Ende November kaum Zeit für Erholung bleiben wird.