Eigentlich hätte es nach dem Abschluss der Sek B mit einer erfolgreichen Lehre weitergehen können. Stattdessen dominierte der Konsum sein Leben: Der junge Mann fing an, starke Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel zu missbrauchen – und nahm Alkohol und Kokain zu sich. Er dealte, brach mehrmals die Lehre ab, wurde beim Sprayen erwischt und wurde arbeitslos. Heute lebt er von einer IV-Rente und bei seiner Mutter.
Mit 22 Jahren wies er sich schliesslich selbst beim Zentrum für Suchtmedizin in Zürich, der Arud, ein. Den Substanzkonsum versucht er langsam herunterzufahren. Gleichzeitig manifestiert sich bei ihm zunehmend eine Angst- und Panikstörung.
Seine Geschichte ist kein Einzelfall. Der Missbrauch von Medikamenten bei Jugendlichen wurde von Sucht Schweiz im Rahmen der «Nationalen SchülerInnenstudie» dieses Jahr erstmals mit Zahlen erfasst. Demnach haben 4 Prozent der 15-Jährigen in ihrem Leben mindestens einmal ein Medikament eingenommen, um sich zu berauschen.
«Ich kenne sicher zwanzig bis dreissig Personen, die regelmässig etwas zu sich nehmen. Man merkt es ihnen einfach an», sagt ein junger Mann Anfangs zwanzig, der selbst nicht konsumiert und anonym bleiben möchte – nennen wir ihn hier Dominik. «Ritalin, Xanax, Hustensaft», zählt er auf. Alles Medikamente, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen.
Gemäss Sucht Schweiz lässt insbesondere der Mischkonsum von Medikamenten und Alkohol aufhorchen, was bei Mädchen (9 Prozent) noch beliebter ist als bei Jungen (5 Prozent). An diesem gefährlichen Mix starben in der Schweiz seit 2018 über 30 Jugendliche.
Befeuert wird der Konsum gemäss Fachleuten auch von Vorbildern aus der deutschen Rap-Szene, wo der Konsum in Texten und Videos oft verharmlost und normalisiert wird. So etwa im Song «Pill Popper» von Rapper Negatiiv OG, wo es heisst: «Komm her und popp Pills, ich bin ein Vorbild ... Reich mir das Benzo. Ich popp mir den Sch* ohne Hemmung.»
Ein Forschungsteam um Corina Salis Gross von der Universität Zürich beleuchtet den Mischkonsum in einer noch laufenden Studie, an der sie Jugendliche und junge Erwachsenen unter anderem zu ihrem Konsummotiv fragen.
Eine vorläufige Datenauswertung mit 60 Teilnehmenden zeigte, dass sie die Substanzen meist deshalb kombinieren, «weil es Spass macht und es sich gut anfühlt». Einige mischten die Substanzen auch, weil es ihnen dabei hilft, lockerer und weniger schüchtern zu sein sowie Ängste oder andere negative Gefühle zu lindern.
Erstaunlich ist, dass die Medikamente so einfach in die Hände der Jugendlichen gelangen. Doch in Zeiten der sozialen Medien ist das ein leichtes Spiel, wie Dominik sagt. So leicht, wie eine Pizza zu bestellen. In Chats auf Telegram und anderen sozialen Netzwerken werden die Substanzen – und entsprechende Preislisten präsentiert. Man wählt aus, begleicht seine Schulden – oft sicherheitshalber mit Kryptowährung – und die Substanz landet ein paar Tage später im Briefkasten oder wird am vereinbarten Treffpunkt übergeben.
Ein Selbstversuch zeigt: Die Suche nach entsprechenden Telegram-Chats aus der Schweiz dauert keine fünf Minuten. Dort geht es ab wie auf einem Markt. Die Dealer geben bekannt: «Heute im Angebot: ...» oder «Beste Preise!» Bilder von aneinandergereihten Medikamenten, darunter Valium, Xanax und Oxycontin fluten die Chats.
Was auffällt: Die Preise sind mindestens zehnmal so hoch wie in der Apotheke. 80 ml Makatussin zum Beispiel kosten in der Apotheke 8.35 Franken – beim Dealer ist mit 130 Franken zu rechnen. Verkauft werden nicht nur die Medikamente selbst, sondern auch gefälschte Arztzeugnisse. Ein anonymer Dealer verlangt 70 Franken für ein Makatussin-Zeugnis.
Ob im Internet, auf der Strasse oder in Schulen, viel spielt sich verdeckt ab. Jürg Wobmann, Chef der Luzerner Kriminalpolizei, hält fest: «Der Schwarzmarkt ist gemäss polizeilichen Erkenntnissen gross.»
Aber, wie kommen die Medikamente überhaupt erst in den Umlauf? «Leider nehmen nicht alle Abgabestellen ihre Pflichten wahr oder Ärzte verschreiben grosszügig entsprechende Medikamente», so Wobmann. Auch würden sie durch Personen, welche ein Rezept haben, in den Umlauf gebracht oder beispielsweise aus dem Haushalt entwendet.
Während sich Dealer über den Wechsel ins Digitale freuen, werden die Behörden vor neue Schwierigkeiten gestellt. Wobmann sagt: «Die Ermittlungen im Internet beziehungsweise im Bereich der sozialen Medien sind äusserst zeitintensiv und werden immer anspruchsvoller.» Dafür brauche man spezielle Softwares und Ausbildungen, die Ressourcen seien aber beschränkt. Für den Chef der Luzerner Kriminalpolizei ist deshalb klar: «Es braucht klare Gesetzgebungen und Auflagen für die Abgabestellen.»
Beim Zentrum für Suchtmedizin in Zürich, der Arud, beobachten die behandelnden Ärzte seit rund zehn Jahren eine steile Zunahme von unter 20-Jährigen, die sich wegen eines Opioid-Problems behandeln lassen müssen. Es sind tragische Fälle. Einige von diesen hat Thilo Beck, Chefarzt Psychiatrie bei der Arud, während einer Fachtagung zu Mischkonsum unter Wahrung der Anonymität vorgestellt.
Da ist zum Beispiel die Schülerin, die mit 15 Jahren stationär in die Psychiatrie aufgenommen wurde, wegen Alkohol- und Medikamentenkonsum nach depressiver Verstimmung. In der Klinik konsumierte sie dann erstmals Diaphin, pharmazeutisch hergestelltes Heroin – und kam nicht mehr davon weg. Sie erlitt daraufhin mehrere Vergiftungen wegen dem Mischkonsum von Diaphin, Benzodiazepine und Alkohol.
Thilo Beck schildert auch einen erfolglosen Behandlungsversuch mit einem tragischen Ende: Die Mutter meldete ihren Sohn wegen Benzodiazepin-, Diaphin- und Oxycontinkonsum bei der Arud an, wo eine Opioidersatztherapie verordnet wurde. Der Patient erschien nur unregelmässig, ein halbes Jahr später erreichte die Arud die Meldung, er sei an einer Intoxikation von Xanax und Fentanyl verstorben.
Wie Thilo Beck während der Tagung betonte, löste der Konsum nicht bei allen Konsumentinnen und Konsumenten richtige Probleme aus. Es sei lediglich bei rund 20 bis 30 Prozent der Fall. Fachleute sind sich denn auch einig, dass es nur wenige Jugendliche sind, die problematisch konsumieren. Es gelte aber, sie zu erkennen und ihnen zu helfen. Denn wie gefährlich der Konsum und vor allem der Mischkonsum sein kann, sind sich viele Jugendlichen gar nicht erst bewusst.
Oft sind es aber gar nicht die Jugendlichen selbst, die Hilfe holen. Vielmehr werden sie von der Polizei mit Substanzen erwischt und schliesslich von der Jugendanwaltschaft in eine Suchtberatung geschickt.
Anfragen von besorgten Eltern hätten sich in letzter Zeit gehäuft, sagt Tanya Mezzera, Bereichsleiterin der Suchtberatung ags, Lenzburg & Wohlen. Es handelt sich dabei zum Beispiel um Eltern, die beim Waschen eine Substanz im Hosensack ihres Kindes entdeckt haben, oder solche, die von anderen Eltern erfahren haben, dass ihr Kind mit Tabletten handelt. Mezzera sagt: «Es macht Eltern ohnmächtig, wenn sich Jugendliche so dermassen zudröhnen.»
In der Suchtberatung sei es wichtig, den Hintergründen des Konsums auf die Schliche zu kommen. Denn meistens stecke ein grösseres Problem dahinter. Wie etwa Probleme in der Familie oder der Schule, psychische Probleme oder Druck. «Der Konsum lässt sie alle Probleme der Welt vergessen», sagt Mezzera.
Entsprechend haben diejenigen, die die Substanzen zur Selbstmedikation einsetzten, Mühe, ihren Konsum zu reduzieren. Daher sei es wichtig, dass die Jugendlichen alternative Stressbewältigungsstrategien erlernten und sich nicht bloss betäuben. Auch sei es wichtig, dass die Eltern als solche präsent sind, immer wieder Beziehungsangebote machen und Leitplanken setzen.
Doch nicht alle Jugendlichen können oder wollen mit dem Konsum aufhören. Stefanie Knocks, Generalsekretärin Fachverband Sucht, schreibt: «Davor dürfen wir die Augen nicht schliessen und diese Jugendlichen sich selbst überlassen.» In diesem Fall seien Botschaften der Schadenminderung wichtig. Den Jugendlichen soll klar gemacht werden, wie gefährlich Mischkonsum ist und dass Produkte aus dem Internet nicht immer enthalten was angegeben wird. Sie schreibt: «Auch so werden Leben gerettet.»
Eigentlich wäre es wichtig, dass Jugendliche die Substanzen bei sogenannten Drug-Checking-Angeboten testen können. Oft sind diese für Minderjährige aber nicht zugänglich. Hier müssten die Behörden und Fachstellen noch anpacken, schreibt Knocks. Zudem empfinden die Jungen bei verschreibungspflichtigen Medikamenten eine Testung in der Regel als unnötig, wenn diese verpackt sind – das werde als vermeintlich sicher angesehen, wie die Zürcher Studie um Corina Salis Gross herausgefunden hat.
Fachpersonen sind sich einig: Es braucht mehr Aufklärung – der Eltern, der Kinder, der Abgabestellen.
(bzbasel.ch)