Wer selber Kinder hat, weiss, wie schnell ein Kind aus den Augen verschwinden kann. Wer Kinder hat, weiss auch, wie schwierig es manchmal ist, auf alles gleichzeitig aufzupassen – Kinder, Verkehr, Verpflichtungen am Arbeitsplatz, ...
Natürlich ist es die Pflicht von uns Eltern, auf unsere Kinder aufzupassen. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Wir müssen sie begleiten, sie über die Gefahren aufklären und wir müssen sie vor allem beschützen und auf sie Acht geben. Wir tun das, mit bestem Wissen und Gewissen.
Und doch gibt es immer mal wieder einen kleinen Moment der Unachtsamkeit. Wir sind abgelenkt, mit den Gedanken kurz irgendwo anders, wir schauen kurz auf die andere Seite, leider sehr oft auch aufs Smartphönchen, wir plaudern kurz mit jemandem und schon ist es passiert:
Das Kind ist weg.
Jeder von uns hat das wohl schon mal erlebt. Dieses Gefühl der Ohnmacht. Dieser heisse Schauer, der einem über den Rücken jagt, einem fast den Atem raubt. Das Herz beginnt zu rasen, im Herz verspürt man einen Druck, als würde es gleich platzen, der Hals ist trocken und die Stimme versagt.
In den allermeisten Fällen dauert dieser Ausnahmezustand nur ein paar Sekunden, manchmal auch Minuten. Aber es scheint, als würde es ewig dauern, bis man sein Kind wieder in die Arme schliessen kann.
Ich habe auch schon mal einen Moment eines unserer Kinder im Schwimmbad aus den Augen verloren. Gedacht, es sei beim Papa, und es dann vor dem grossen Schwimmbecken bei einem wildfremden Mann wiedergefunden. Nix passiert! Es hätte aber auch genauso gut in einer Katastrophe enden können.
Ja, es gibt sie. Diese schrecklichen Unfälle oder Verbrechen, die manchmal passieren. Weil Eltern vielleicht einen Moment unaufmerksam sind, weil sie eben auch nur Menschen sind. Oder weil sie einfach nicht daran denken, dass etwas Schlimmes passieren könnte.
Dieser eine Moment, der das ganze Leben für immer verändert.
Als Eltern oder als Erziehungsberechtigte stellt man sich dann sofort diese quälenden Fragen:
«Warum hab ich diese 20 Sekunden nicht aufgepasst?»
«Warum hab ich es nicht an die Hand genommen?»
«Warum sind wir nicht fünf Minuten später losgelaufen?»
«Warum hab ich mit meiner Freundin noch kurz geredet?»
«Warum hab ich nicht noch mal kontrolliert, ob ich die Bremse beim Kinderwagen richtig angezogen habe?»
«Warum habe ich es einfach dort schlafen lassen?»
Gleichzeitig wird in den (sozialen) Medien mit grossem Tamtam dieses traurige Schicksal gepostet, diskutiert, ausgeschlachtet und es wird öffentlich getrauert.
Es werden gut gemeinte Ratschläge erteilt, fremde Menschen ärgern sich darüber, warum man denn – wenn ein Kind verschwunden ist – um Himmelswillen nicht mit Hunden nach dem Kind sucht, oder die Suche in der Nacht unterbricht, warum denn diese oder jene nicht besser auf das Kind aufgepasst hat.
Wenn ein Kind in einem Auto auf einem Parkplatz stirbt, dann wissen immer alle, «dass man das doch nicht macht, ein Kind im Auto zurücklassen».
Auf Facebook werden dann jedes Mal zig Kerzenbilder gepostet, mit denen man an die armen Eltern denkt. Doch zwischen den Kerzen und den Engelsbildern tauchen sie immer wieder auf. Wie kleine, spitze Nadeln: die Vorwürfe.
«Wenn ein Kind schläft, dann wartet man bis es wieder erwacht oder man weckt es, wenn man fort muss! als Mutter sollte man wissen, wie lange das Kind Mittagsschlaf macht!»
«Wahrscheinlich haben die einfach ein bisschen zu heftig gefeiert!»
«Typisch, schaut euch mal das Profilbild der Mutter an!»
«Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der mit der Mutter zur Schule ging. Die war schon damals nicht sehr zuverlässig.»
«Ich will ja nix sagen, aber wie kann ein Kind einfach so verschwinden? Die Eltern müssen doch aufpassen.»
«Nicht böse gemeint, aber man lässt doch sein Kind keine Sekunde aus den Augen?»
«In der Zeitung stand, dass die schon ein Kind im Heim haben.»
Natürlich macht sich jeder von uns bei Schlagzeilen rund um Unfälle oder Verbrechen von Kindern immer seine Gedanken. Wie so etwas passieren konnte. Ob man es nicht hätte verhindern können. Wer denn «Schuld» hat.
Das ist wohl menschlich.
Dass man so etwas DENKT, ist das eine. So was aber ÖFFENTLICH zu kommentieren und die Eltern und deren Umfeld zu verurteilen, ist einfach nur komplett daneben.
Wie können wir uns anmassen, in sozialen Netzwerken oder in den Kommentarspalten der Onlinezeitungen öffentlich darüber zu urteilen, zu richten?
Wie können wir über einen Unfall oder ein Verbrechen urteilen, wenn wir nicht alle Details kennen? Und auch wenn wir sie kennen, wer gibt uns das Recht, öffentlich Vorwürfe zu machen?
Ohne Frage, es ist schlimm, ganz furchtbar schlimm, wenn ein Kind stirbt. Vielleicht hätten die Eltern oder deren Umfeld es verhindern können. Vielleicht hätten sie sich anders verhalten können oder sollen und alles wäre gut ausgegangen.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wäre es auch trotz dem «hätte, wäre, sollte» passiert. Wir wissen es einfach nicht.
Dass wir manchmal über andere urteilen, kann man, glaub ich, nicht verhindern. Dass wir aber ÖFFENTLICH und lautstark über andere urteilen, schon.
Niemand von uns ist unfehlbar.
Deshalb mein Rat an alle, die sich ihre Gedanken machen. Also, lieber einfach nur ein Kerzenbild posten und den Mund halten.
Oder gar kein Kerzenbild posten.
Lieber die eigenen Kinder in den Arm nehmen und froh sein, dass wir bis jetzt vielleicht einfach grosses Glück und die Kinder einen Schutzengel hatten und noch bei uns sein dürfen.
Klar, die meisten der Ächterinnen und Schwätzer sitzen einem Fehlglauben auf - sie wollen glauben, dass schlechte Dinge nur schlechten Menschen passieren; dass man Schicksalsschläge durch eigene Schuld "verdient". Wenn sie sich vergewissern, dass jene, denen das Unvorstellbare passiert, "nicht so sind wie wir", glauben sie, davor geschützt zu sein. Sie glauben, dass ihnen "so etwas" nicht passieren kann, als würde das Schicksal nicht bisweilen zufällig zuschlagen.
Beruhigend - aber ein Irrglaube. Und für jene, die Mitgefühl benötigen würden, brutal.