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«Wir sind die Behinderten, die immer motzen und allen zusätzlich auf der Tasche liegen»

Simone Leuenberger kann sich in ihrem elektrischen Rollstuhl gut und selbstständig in Bern bewegen.
Simone Leuenberger kann sich in ihrem elektrischen Rollstuhl gut und selbstständig in Bern bewegen.Bild: watson
Mit dem Rollstuhl durch Bern

«Wir sind die Behinderten, die immer motzen und allen zusätzlich auf der Tasche liegen»

Stufen, Kopfsteinpflaster und Lift-Knöpfe, die nicht zu erreichen sind. Ein Rundgang durch Bern mit einer Betroffenen zeigt, wie selbstverständlich die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern immer wieder ignoriert werden.
16.10.2014, 14:1217.10.2014, 21:37
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Die Bustür öffnet sich. Auf der Klappe, die der Chauffeur für Rollstuhlfahrer herauslegen könnte, stehen zwei Personen mit ihren Koffern. Sie schauen uns an und bewegen sich keinen Zentimeter vom Fleck, obwohl die Gänge zwischen den Sitzen noch leer sind. Der Fahrer steigt aus und sagt uns, dieser Bus sei «ziemlich» voll. Wir sollten es mit dem Nächsten versuchen. Doch dieser ist tatsächlich komplett überfüllt. Also beschliessen wir, zum Bahnhof zu Fuss zu gehen – beziehungsweise mit dem Rollstuhl zu fahren.

In den zweiten Bus können sich zwar noch ein paar Fussgänger quetschen, für uns reicht der Platz aber nicht mehr.
In den zweiten Bus können sich zwar noch ein paar Fussgänger quetschen, für uns reicht der Platz aber nicht mehr.Bild: watson

«Wir», das sind Simone Leuenberger und ich. Die 39 Jahre alte Frau leidet an einer Muskelkrankheit. Sie hat zu wenig Kraft, um sich beispielsweise eine Jacke allein anzuziehen. Mit ihrem elektrischen Rollstuhl kann sie sich aber sehr gut selbstständig bewegen. Heute zeigt sie mir wie es ist, als Rollstuhlfahrerin in der Schweiz zu leben.

Ganz aktuell ist eine Diskussion rund um die Schoggibahn in Luzern aufgeflammt: Dabei handelt es sich um die neuste Attraktion im Verkehrshaus. Während nichtbehinderte Besucher bei einer 25-minütigen Fahrt die Geschichte der Schokolade erleben können, müssen sich Rollstuhlfahrer noch bis April 2015 gedulden. Erst dann wird es einen Wagen geben, der auch ihnen den Zugang ermöglicht. «So ist es immer wieder, die behinderten Menschen werden erst in einem zweiten Schritt bedacht», sagt Leuenberger zu dem aktuellen Fall.

«Eigentlich bin ich scheinbehindert, so absurd das auch klingt.»
Simone Leuenberger

Eine Situation, wie wir sie mit dem Bus erlebt haben, passiert der 39-Jährigen immer wieder: «Gerne heisst es dann ‹Wieso müssen die Behinderten denn auch zu den Stosszeiten unterwegs sein? Die haben doch alle Zeit der Welt.›» Doch Leuenberger hat nicht «alle Zeit der Welt». Sie ist zu 70 Prozent berufstätig und bezieht deshalb auch keine Invalidenrente. «Eigentlich bin ich scheinbehindert, so absurd das auch klingt.»

Vor zehn Jahren ist in der Schweiz das Behindertengleichstellungs-gesetz (BehiG) in Kraft getreten. Was hat sich seitdem getan? «Am wichtigsten ist eigentlich, dass wir seitdem eine Gesetzesgrundlage haben, auf die wir uns stützen können, wenn wir um etwas kämpfen», erklärt mir Leuenberger, die zu 20 Prozent für agile.ch, den Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen in der Schweiz, arbeitet.

Und wie steht es mit der konkreten Umsetzung? In Bern komme man mit dem Rollstuhl ziemlich gut zurecht, berichtet Leuenberger. Das liege aber vor allem an einer Volksabstimmung der Stadt Bern aus dem Jahr 1993. Damals wurde festgelegt, dass der öffentliche  Verkehr behindertengerecht ausgestaltet werden muss. Jetzt – mehr als 20 Jahre später – sei dies auch der Fall: Alle Busse und Bahnen sind für Rollstuhlfahrer zugänglich.

Alle Gehwege in Bern sind abgesenkt

Ganz anders sehe das beispielsweise in Zürich aus: «Da wird zwar angezeigt, wann das nächste Niederflurtram kommt, aber wenn ich Pech habe, ist es erst das übernächste und dann verpasse ich meinen Zug, den ich ja extra reservieren muss, damit mir jemand in Zürich beim Ein- und in Bern beim Aussteigen hilf.» Wenn Leuenberger also beruflich ausserhalb von Bern oder Thun – wo sie als Lehrerin tätig ist – unterwegs ist, sei der Planungsaufwand entsprechend gross.

Nachdem wir in einem Café etwas getrunken haben (ein kurzer Blick zeigt, dass sich die Toiletten im Keller befinden und es dorthin keinen Lift gibt), beginnen wir unsere Runde durch die Stadt. Mit den vielen Laubengängen stellt Bern eine Herausforderung für Rollstuhlfahrer dar, aber «in der ganzen Stadt sind alle Gehwege irgendwo abgesenkt. Ich kann also sicher sein, dass ich überall rauf- und wieder runterkomme», erzählt Leuenberger.

Die vielen Lauben in Bern stellen für Rollstuhlfahrer eine Herausforderung dar.
Die vielen Lauben in Bern stellen für Rollstuhlfahrer eine Herausforderung dar.Bild: watson

Wegen der Laubengänge müsse man als Rollstuhlfahrer einfach etwas genauer planen, wo man eigentlich hin wolle – ein Strassenseitenwechsel sei über längere Zeit nicht möglich. Nach etwa 200 Metern ist der Laubengang auf unserer Seite plötzlich auf der gleichen Ebene wie die Strasse. «Sehen Sie, hier könnte ich jetzt vom Laubengang auf die Strasse fahren, aber auf der anderen Seite hat es wieder Stufen.» 

«Wir sind immer ein zusätzlicher Aufwand, wir gehören nicht dazu.»
simone leuenberger

Doch am Stadtbild von Bern würde Leuenberger gar nichts ändern wollen. Mit genügend Zeit und Planung käme sie ja praktisch überall hin. Schade sei viel mehr die Tatsache, dass sie in viele Geschäfte nicht reinkäme, weil sich am Eingang eine oder mehrere Stufen befänden. «Es gäbe da ganz einfache Lösungen, aber alles, was für Behinderte gemacht werden muss, ist irgendwie ein ‹Extra›. Es ist nicht in den Köpfen der Menschen verankert, dass man auch an uns denkt. Wir sind immer ein zusätzlicher Aufwand, wir gehören nicht dazu.»

Das fehlende Selbstverständnis ist auch das, was Leuenberger in der Schweiz am meisten stört. In den USA sei das beispielsweise ganz anders. Im Jahr 1996 war die Lehrerin für mehrere Wochen dort auf Rundreise unterwegs: «Damals gab es noch kein Smartphone, mit dem man vorab klären konnte, ob der Zielort rollstuhlgängig ist. Aber die waren damals schon weiter als wir heute.» In den USA sei jedes Restaurant mit einem Behinderten-WC ausgerüstet. «Behinderte gehören dort einfach dazu und es muss nicht extra für uns etwas dazu gemacht werden.»

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Auch gute Beispiele in Bern zu finden

Dass es auch für Geschäfte einfache Lösungen geben kann, zeigt mir Leuenberger an einem konkreten Bespiel: «Schauen Sie mal in diesen Laden», fordert sie mich auf. Ich blicke in ein Optikergeschäft. Gleich nach der Glastür kommen circa zehn Stufen. Die eigentliche Ladenfläche befindet sich im Untergeschoss. «Hier kaufe ich meine Brillen», sagt die 39-Jährige und zeigt auf eine Knopf neben der Tür, auf dem ein Rollstuhl aufgemalt ist. «Wenn ich klingle, kommt jemand und bringt mich zu einem anderen Eingang. Dort gibt es einen Lift, mit dem ich nach unten komme.»

Natürlich ginge so etwas nicht überall, aber in einem Land, in dem grosser Wohlstand herrscht, würde sich Leuenberger mehr solche Beispiele wünschen. «Wir sind immer die, die stänkern und motzen müssen, damit wir etwas erreichen. Und so werden wir dann auch wahrgenommen. Wir sind die Behinderten, die allen zusätzlich auf der Tasche liegen.» 

Beim Rathaus angekommen, zeigt mir Leuenberger die Kirche Sankt Peter und Paul. Direkt davor hat es zwei Behindertenparkplätze. Doch die beiden Eingänge zur Kirche sind nur über zwei Stufen zu erreichen. Keine Chance für Rollstuhlfahrer. «Wie ist es mit dem Münster?», will ich wissen. «Kommen Sie mit, das können wir uns ja anschauen.»

«Wegen mir müssen sonst alle immer Umwege mitmachen.»
simone Leuenberger

Von hinten nähern wir uns dem Münster. Die Kirche ist umgeben von Kopfsteinpflaster. Jedoch nur auf der einen Seite. Also gehen wir auf der linken Seite über die Münsterplattform, dort ist der Boden asphaltiert. Leuenberger kann mit ihrem elektrischen Rollstuhl zwar auch über Kopfsteinpflaster fahren, besonders angenehm ist das jedoch nicht. 

Als wir die Münsterplattform überquert haben und nur noch einen Steinwurf vom Eingang der Kirche entfernt sind, bleiben wir stehen. Um von dem geteerten Platz zur Kirche zu gelangen, muss man drei Stufen hinaufsteigen. Also kehren wir um und laufen, beziehungsweise fahren, einmal um das Münster herum. «Ich kann eigentlich nicht einfach so mit nichtbehinderten Menschen unterwegs sein. Wegen mir müssen sonst alle immer Umwege mitmachen.»

Ein Hinweisschild für behinderte Menschen am Berner Münster.
Ein Hinweisschild für behinderte Menschen am Berner Münster.Bild: watson

Und auch am Eingang zur Kirche gibt es wieder Stufen. Dort ist aber eine Telefonnummer angeschrieben, auf der man anrufen kann, damit jemand den Seiteneingang öffnet. Dort sind nämlich keine Stufen. «Das ist jetzt schon etwas Besonderes. Aber wie wäre es mit einer Rampe am Haupteingang? So muss nun wieder extra jemand für mich kommen und ich werde schon wieder zum Hindernis.»

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Denkmalschutz macht eine Rampe unmöglich

Anschliessend besichtigen wir noch das Mattenquartier. Doch schon nach einigen Metern ist Schluss für uns: Denn um hier den Lauben entlang flanieren zu können, muss man zwei Stufen hinuntersteigen. Leuenberger hat sich bei der Stadt nach einer Rampe erkundigt, die den Weg für sie frei machen würde. 

Doch die Behörden kamen zu dem Schluss, dass aus Sicherheitsgründen ein Geländer angebracht werden müsste – und das ginge wiederum aus Denkmalschutzgründen nicht. Was sich denn dort in dem Laubengang befindet, frage ich Leuenberger völlig naiv. «Keine Ahnung, ich war ja noch nie dort», antwortet sie mir.

Zwei kleine Stufen machen das Weiterkommen unmöglich.
Zwei kleine Stufen machen das Weiterkommen unmöglich.Bild: watson

Leuenberger wundert sich immer wieder über das fehlende Verständnis der Menschen: «Es geht uns doch alle etwas an. Denn jeder kommt irgendwann mal im Leben in diese Situation. Ob als alter Mensch, als verletzter Mensch oder eben als behinderter Mensch. Und auch Mütter oder Väter mit Kinderwagen stossen an die gleichen Probleme wie ich.»

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Gut gemeint, aber schlecht konzipiert

Besonders ärgert sich die Rollstuhlfahrerin über so genannte «Verschlimmbesserungen»: Im Bahnhof Bern seien vor ein paar Jahren neue Fahrstühle gebaut worden, mit denen man direkt von der Stadt aus aufs Perron kommt – ohne sozusagen durch das gesamte Bahnhofsgebäude zu müssen. Die Idee sei ja nicht schlecht, den Knopf, um den Lift zu rufen, kann Leuenberger jedoch nicht betätigen. Weil er schräg angebracht ist. 

Trotz Hilfsmittel kann Leuenberger den Knopf nicht drücken. Selbst Draufhauen bringt nichts (wie mein kurzer Test gezeigt hat).
Trotz Hilfsmittel kann Leuenberger den Knopf nicht drücken. Selbst Draufhauen bringt nichts (wie mein kurzer Test gezeigt hat).Bild: watson

Selbst mit dem kleinen Stock, den sie zur Hilfe dabei hat, kann sie so nicht genügend Druck ausüben. «Das Problem ist, dass wir nie gefragt werden. Wir – die Betroffenen – könnten doch am besten helfen, wenn es darum geht, behindertengerechte Konzepte zu erstellen», sagt Leuenberger.

Am Ende unserer Runde versuchen wir noch, das Busticket zurückzugeben, das wir ja nicht nutzen konnten, weil wir in keinen Bus gepasst haben. Der Herr am Schalter ist sehr freundlich und gibt uns im Tausch ein Ticket für eine Einzelfahrt. Aber nicht, weil das so geregelt ist. Eigentlich dürfte er das nicht, er würde uns nur einen guten Gefallen tun, erklärt er uns. «Jetzt hat er das Gefühl, dass er etwas Gutes getan hat. Aber wir bleiben im Unrecht», kommentiert Leuenberger die Situation.

10 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz:
Während eines Flashmobs in acht Schweizer Städten sind Menschen am Freitag, 10. Oktober 2014, zwischen 17.10 und 17.14 Uhr still gestanden und haben die Botschaft «Ich bin (im Moment) ein Hindernis. 10 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz BehiG» gezeigt. Die Aktion ist in dem folgenden Video zu sehen:
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