Es war ein naheliegender Vorstoss, den der frühere SP-Nationalrat und ehemalige Basler Gesundheitsdirektor Remo Gysin im Mai 2003 im Parlament einbrachte. Wie steht es um den rechtlichen Schutz für Whistleblower, die in der Privatwirtschaft oder im Öffentlichen Dienst Korruption und andere oft kriminelle Handlungen anzeigen?
Für einen ökonomisch geschulten Politiker wie Gysin lag die Frage auch aus wirtschaftlichen Überlegungen auf der Hand. Das Fehlverhalten einzelner Akteure oder ganzer Unternehmen verträgt sich schlecht mit den Idealen von Markt und freiem Wettbewerb. Doch der Bundesrat setzte die Priorität anders. «Die Forderung nach einer Verstärkung des Kündigungsschutzes für Hinweisgeber auf Korruption würde zu einer fundamentalen Reform des schweizerischen Arbeitsrechtes führen, das auf dem Grundsatz der Kündigungsfreiheit beruht und missbräuchliche Kündigungen sanktioniert», erhielt der Parlamentarier zur Antwort. Die Sache war erledigt – vorerst.
16 Jahre später ist man in Bern nun doch etwas weiter. Nach den ersten Verweigerungsversuchen und einem vom Parlament zurückgewiesenen Vorschlag liegt seit 2018 ein neuer Gesetzestext vor, über den die Rechtskommission des Nationalrates Anfang Mai beraten will.
Gysin ist längst in Pension und ernüchtert über den langwierigen Prozess. «Es ist enttäuschend, zu sehen, wie Bundesrat und Parlament mit dem Thema umgehen. Missstände wie Korruption sollten auch in der Schweiz ernsthafter bekämpft werden», sagt er.
Damals wie heute wird um den Kündigungsschutz gerungen. «Ein Kündigungsschutz für Whistleblower passt nicht ins Bild unseres liberalen Arbeitsrechts, mit dem wir immer sehr gut gefahren sind», sagt Kommissionspräsident Pirmin Schwander (SVP, Schwyz). Gleichzeitig räumt er aber auch ein: «Eine praxistaugliche Lösung, die das heutige Kündigungsrecht nicht tangiert, ist schwer zu finden.»
Die Ansage tönt wenig verheissungsvoll für das Gesetz, das voraussichtlich im Sommer im Parlament behandelt werden muss. Denn: Nach dem bundesrätlichen Vorschlag soll Whistleblowern auch künftig gekündigt werden dürfen. Erachten sie die Kündigung als missbräuchlich, haben sie die Möglichkeit, sich auf dem Rechtsweg einen Schadenersatz von sechs Monatslöhnen zu erstreiten.
Zahlreiche Fälle von Whistleblowing haben in den vergangenen Jahren aber gezeigt, dass Hinweisgeber nach dem Rauswurf lange keine Anstellung mehr finden. «Das Problem des Whistleblowings wird inzwischen auch in der Schweiz anerkannt», so Schwander. «Nur fehlt es bisher an mehrheitsfähigen Lösungen.»
Offensichtlich sieht also auch das Parlament keine Priorität in der Korruptionsbekämpfung. Dies ist gar nicht so überraschend, wenn man sich das positive schweizerische Selbstbild vor Augen führt. «Wer nicht weiss, wie Korruption im Alltag aussieht, kann sie auch nicht als solche erkennen», sagt Managementprofessor Christian Hauser von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur.
Über die Dimensionen des Korruptionsproblems in der Schweiz lässt sich nur spekulieren. Doch gerade die missbräuchlichen Praktiken im Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis haben gezeigt, dass eine Bereitschaft dazu auch hierzulande durchaus vorhanden ist. Geschadet hat sich die Finanzbranche damit am Ende selber.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass internationale Privatunternehmen Whistleblowing als wirksames Instrument zur Korruptionsbekämpfung erkannt haben und im Umgang mit dem Thema dem Gesetzgeber weit vorauseilen. Meldestellen für anonyme Hinweisgeber seien bei Grossfirmen mit über 250 Angestellten Standard, sagt Hauser. Die Hälfte der eingehenden Meldungen seien «gehaltvoll» und wiesen auf signifikante Missstände hin. Missbräuchliche Meldungen, etwa mit verleumderischer Intention, seien dagegen selbst in den durchgehend anonymisierten Meldesystemen eine Seltenheit.
Bleibt die Frage, weshalb die grosse Mehrheit der kleineren Unternehmen (90 Prozent) auf dieses wirksame Instrument der Missbrauchsbekämpfung verzichtet. Die naheliegende Antwort ist, dass ein durchschnittliches KMU eben nicht damit rechnet, ähnlich negative Erfahrungen mit Korruption machen zu müssen wie international tätige Grossfirmen. So gesehen wäre es für ein KMU auch rational, die potenziellen Kosten eines institutionalisierten Meldewesens höher zu gewichten als dessen Nutzen. Und genau dies scheint auch der Grund zu sein, weshalb sich vor allem KMU gegen die gesetzliche Verankerung eines griffigen Meldewesens sträuben. Tatsächlich müssten KMU auch mit besonderen Herausforderungen rechnen. So könnte ein Kündigungsschutz für Whistleblower für ein KMU mit wenigen Angestellten viel schneller zu einem ernsthaften Problem werden als für ein Grossunternehmen mit vielen Mitarbeitern.
Auch müsste ein wirksames Whistleblower-Gesetz so ausgestaltet sein, dass mindestens in den KMU mit wenigen Hierarchiestufen verdächtige Beobachtungen schneller nach aussen getragen werden dürfen als in Grossunternehmen. Auch das könnte für betroffene KMU höhere Kosten – etwa Reputationsschäden – zur Folge haben. Die Gefahr besteht nun aber, dass diese Vorbehalte in ein Gesetz einfliessen, das mehr die Firmen als die Whistleblower schützt. Damit ginge das Risiko einher, dass auch die von Grossunternehmen selbst erreichten Fortschritte wieder verloren gingen. Hauser meint jedenfalls, dies könnte durchaus ein Ergebnis einer fehlgeleiteten Gesetzgebung sein.
Am Ende muss Gysin vielleicht sogar froh sein, wenn das Whistleblower-Gesetz noch einmal in der Schublade landet.