Die Verhandlungen über die neuen bilateralen Verträge mit der EU zogen sich über Jahre hin. Doch jetzt geht es Schlag auf Schlag. Vor zehn Tagen entschied der Bundesrat, dass das Vertragspaket nur dem Volksmehr unterstellt werden soll, es also keine Mehrheit der Kantone braucht. Der Entscheid war lange erwartet worden und ist höchst umstritten – die Gegner der institutionellen Einigung mit Brüssel reagierten empört.
Nun steht der nächste Aufreger bevor. Bereits am kommenden Mittwoch will der Bundesrat über die Umsetzung der Schutzklausel im Bereich der Personenfreizügigkeit beraten. Dem Vernehmen nach ist eine Pressekonferenz mit Justizminister Beat Jans geplant, sollte der Bundesrat abschliessend entscheiden. Bestätigt wird das nicht.
Inhaltlich geht es um die Konkretisierung einer Schutzklausel, die schon seit 1999 im Vertrag über die Personenfreizügigkeit steht. Sie kam jedoch nie zum Tragen, weil Brüssel die Anwendung blockieren konnte. Mit den neu ausgehandelten bilateralen Verträgen soll sich das nun ändern. Nach grossen Widerständen hat die EU der Schweiz eine neue, griffigere Schutzklausel zugestanden – nach Diskussionen, in die selbst die damalige Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen involviert waren.
Die Formulierung der Klausel ist nicht öffentlich. In Faktenblättern zum Verhandlungsergebnis schreibt der Bundesrat jedoch: «Die neu konzipierte Schutzklausel kann von der Schweiz eigenständig aktiviert werden.» Ein Schiedsgericht mit Mitgliedern beider Seiten würde sodann entscheiden, ob die Anwendung zurecht erfolgt. Falls ja, dürfte die Schweiz die Zuwanderung steuern. Die EU erhielte das Recht, Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen; diese müssten aber verhältnismässig sein und dürften nur den Geltungsbereich der Personenfreizügigkeit betreffen.
Offenbar hat die Bundesverwaltung nun die Arbeiten für die Umsetzung dieser Klausel im Schweizer Recht abgeschlossen. Demnach sollen im Ausländer- und Integrationsgesetz Kriterien definiert werden, wann der Bundesrat die Schutzklausel zwingend aktiveren muss. Das etwa, wenn die Nettozuwanderung, die Arbeitslosigkeit oder die Sozialhilfequote in einer Region oder einer Branche ein Ausmass erreichen, das zu «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» führt.
Daneben ist dem Vernehmen nach vorgesehen, für weitere Kriterien Schwellenwerte im Gesetz aufzuführen, bei denen der Bundesrat die Schutzklausel aktivieren kann. Hier dürften unter anderem Zahlen aus dem Wohnungsmarkt eine Rolle spielen. Zum Beispiel, falls eine rasche, sehr starke Zuwanderung in einer Region oder Stadt Verwerfungen im Mietwohnungsmarkt bis hin einer akuten Wohnungsnot auslösen sollte.
Obwohl die Traktandenliste des Bundesrats vertraulich ist, sorgt die Beratung der Schutzklausel schon Tage im Voraus unter der Bundeshauskuppel für erhöhte Betriebsamkeit. So soll die SVP als vehementeste Kritikerin der neuen Verträge eine Gegen-Medienkonferenz vorbereiten zum Auftritt von Bundesrat Jans am nächsten Mittwoch.
Für die Partei steht längst fest, dass die Wirkung der neuen Schutzklausel ihren Erwartungen nicht genügen wird. Am Mittwoch hatten SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi und Nationalrätin Magdalena Martullo Blocher Gelegenheit, die Vertragstexte zu lesen. Das gleiche Recht wird allen Fraktionen des Parlaments zugestanden. Nach der Lektüre sagte Aeschi vor den Medien er sei «schockiert», wie schlecht das Vertragspaket verhandelt worden sei. Zugleich verriet er laut einem Bericht des «Tages-Anzeigers», dass der Bundesrat nächsten Mittwoch über die inländische Umsetzung der Schutzklausel informieren werde.
Der SVP kommt die neue Schutzklausel auch nicht zupass, weil sie ihre Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» entkräften könnte. Als SP-Bundesrat und Justizminister Jans im März begründete, warum der Bundesrat die SVP-Initiative ohne Gegenvorschlag ablehnt, sagte er: Mit der Schutzklausel «kann der Bund die Zuwanderung besser steuern, wenn sie zu rasch erfolgt und messbare Probleme mit sich bringt». Im Gegensatz zur Initiative gefährde dieses Vorgehen den bilateralen Weg nicht und sei deshalb die bessere Lösung, sagte Jans. (aargauerzeitung.ch)
Ich finde seine Überheblichkeit in der Beurteilung des Verhandlungsergebnis beschämend.