Wenn Werner Zemp aufsteht, dann weiss er schon, dass Gravättli unten in der Küche wartet. Die Katze braucht nicht viel, nur ein wenig Aufmerksamkeit, das tut ihr gut. Und Werner Zemp auch. Seit vielen Monaten schon sieht er kaum eine Menschenseele, es geht nicht anders, wegen der Pandemie. Gravättli aber ist immer da.
Das Coronavirus macht dem ganzen Land schwer zu schaffen, es ächzt und stöhnt, weil ihm langsam die Geduld ausgeht. Das gilt auch für Werner Zemp, an ihm nagt das alles besonders, weil das Virus sein Leben bedroht. Der 60-Jährige muss sich Sars-Cov-2 unbedingt vom Leib halten. Seine Lunge ist unheilbar krank. Deshalb bleibt er seit langer Zeit allein in seinem Haus im Entlebuch, auch wenn er eigentlich ein geselliger Mann ist.
Nur die Impfung kann Zemps Leben schützen. Und es ihm damit ein Stück weit wieder zurückgeben. Doch der Luzerner wartet bis heute. Seit drei Monaten impft die Schweiz mittlerweile schon fast, und noch immer arbeitet sie sich an der ersten Prioritätengruppe ab, jenen Menschen, die das Virus besonders gefährdet: den ganz Alten. Und den ganz Kranken.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Weil der Impfstoff knapp ist, müssen sich selbst Hochrisikopatienten vielerorts noch gedulden – auch chronisch Kranke mit dem höchsten Risiko, Menschen wie Werner Zemp, dem der Arzt gesagt hat, dass eine Infektion das Todesurteil bedeuten könnte. Wie vielen es ähnlich geht wie Zemp, lässt sich nicht genau ermitteln. Doch es sind tausende, mindestens (siehe Infobox am Ende des Artikels). Wie ist es für sie, zu warten? Und wie, endlich erlöst zu werden?
Werner Zemp ist keiner, der wegen jedem Seich zum Doktor rennt. Vor vier Jahren geht es ihm eine Weile nicht gut. Die Grippe, denkt er. Doch an einem Sommertag schafft er es nicht mehr aus dem Bett. Keine Luft. Der Hausarzt meint, er solle ins Spital, und nicht ohne Zahnbürste.
Dort sagt der Lungenspezialist, das mit dem Arbeiten könne er ab jetzt vergessen: Diagnose COPD. Eine schwere, chronische Lungenkrankheit, und erst noch Stufe Gold 4, die schwerste. Aus Werner Zemp, dem Mechaniker, wird auf einen Schlag Werner Zemp, der IV-Rentner.
Seine Krankheit beschreibt der 60-Jährige so: «Stellen Sie sich vor, dass sie vier Stockwerke hochrennen, um Atem ringen – und sich einfach nicht mehr erholen. So ist das bei mir ohne Hilfe». Deshalb hängt ein Schlauch über Zemps Ohren, er führt Sauerstoff in die Nase, nur ein paar Schritte schafft er ohne. Wenn er das mobile Sauerstoffgerät dabei hat, kann er noch kleinere Spaziergänge machen oder eine Ausfahrt mit dem E-Bike.
Das Haus von Werner Zemp steht etwa abseits des Dorfs Hasle, er ist darin aufgewachsen und hat es von den Eltern übernommen. In der Garage sind zwei Schätze verstaut. Mit den Motorrädern ist er früher gern durchs Land gekurvt, hat da und dort Freunde getroffen, «man hat Pässe gefahren und ist eingekehrt», sagt er.
Jetzt treffe man sich zwar im Internet oder über Whatsapp, aber das gleiche sei das nicht. Um die Tage zu füllen, werkelte Zemp in den letzten Monaten viel an seinem Haus, wenn er die Kraft dafür fand.
Und vor allem wartet und wartet der Luzerner. Am Donnerstag hat er endlich das erlösende SMS erhalten: Am nächsten Donnerstag wird er geimpft. Zemp weiss nicht genau, warum alles so lange dauerte, doch er gehört nicht zu denen, die sich lauthals beschweren. Er ist sicher, dass die Behörden ihr Bestes tun. Und freut sich schon jetzt darauf, bald wieder einen Kaffee zu offerieren oder einen zu betteln, wie sie im Entlebuch sagen.
Vom hügeligen Entlebuch sind es 67 Kilometer bis nach Kloten, die Stadt im Agglomerationsbrei vor Zürich, die man wegen des Flughafens kennt und wegen des Eishockeyvereins, der früher einmal ganz gut war. Dort sitzt ein etwas eingefallener Mann mit seiner Frau am Esstisch, auf dem Fenstersims stehen Orchideen. Mit Werner Zemp verbindet ihn, dass auch er an COPD leidet.
Der Unterschied ist, dass Hans Hochuli schon geimpft ist, seit etwas mehr als einer Woche. Wer wann zum Zug kommt, das ist in der Schweiz gerade nicht nur davon abhängig, wie alt oder krank man ist. Sondern auch davon, wo man lebt.
Hochuli sagt, er habe «es huere Schwein» gehabt, dass er an die Reihe gekommen ist. Sein Hausarzt legte sich für ihn ins Zeug und seine Lungenärztin; am Ende bekam er seinen Termin über den Kardiologen, weil auch sein Herz nicht mehr so funktioniert, wie es sollte.
Als der 72-Jährige dann im Bülacher Impfzentrum sass, war er zuerst ganz schön nervös. Und wenn man wissen will, wie es ihm später ging, nach der Impfung, dann hört man am besten seiner Frau Monika zu. Sie sagt, es sei gewesen, als ob ein Stein runterpolterte. Auch wenn es noch etwas dauert, bis die Impfung ihre volle Wirkung entfaltet: Etwas habe sich gelöst bei ihrem Mann, «ich habe das ganz genau gespürt», sagte seine Frau.
Die beiden haben sich 1969 an der Klotener Fasnacht kennengelernt. Sie gingen danach nie wieder hin, doch beieinander sind sie bis heute geblieben. Ein Sohn kam zur Welt und später eine Enkeltochter, Hans Hochuli arbeitete als Hauswart bei der Migros, Monika im nahen Schluefweg an der Kasse von Eisbahn und Hallenbad. Dann gab Hans Hochulis Körper den Geist auf, zuerst das Herz, dann die Lunge. Heute ist er so krank, dass er ohne Sauerstoff kaum mehr einen Schritt machen kann.
Eine Prognose, wie lange er noch zu leben hat, mag kein Arzt abgeben. Die Hochulis haben für Hans ein Elektromobil angeschafft, damit sie weiterhin in den Wald können. Er ist für sie in der Pandemie noch wichtiger geworden als vorher. Ein kleines Stück Alltag.
Jeden Tag hat Hans Hochuli mit Anfällen zu kämpfen. Die Luft geht ihm dann aus, und er muss aufpassen, dass er nicht in Panik gerät, weil das alles nur noch schlimmer macht. «Du darfst gehen, wenn du nicht mehr kannst», das hat Monika einmal zu Hans gesagt. Aber er will weitermachen, jetzt, nach der Impfung, erst recht.
Mehr als ein Jahr ist es her, dass sie alle unbeschwert zusammensassen, ohne Maske und Abstand, «ohne Handbremse», wie die Hochulis sagen, Hans und Monika, der Sohn und dessen Frau und die 14-jährige Enkeltochter. Das noch einmal zu erleben, sagt Hans Hochuli, halte ihn am Leben. (bzbasel.ch)