Schweiz
International

«Die neue Entwicklung im Nahen Osten nützt Putin» – Experte über Kriege

«Es gibt es rückläufige Tendenzen bei Frieden, Freiheit, Demokratie. Das ist keine gute Entwicklung», sagt der Philosoph Francis Cheneval.
Ist überzeugt, dass der Konflikt im nahen Osten Putin in die Karten spielt: Francis Cheneval.Bild: Dlovan Shaher

«Die neue Entwicklung im Nahen Osten nützt Putin» – Experte über die Häufung von Kriegen

Es liege im Interesse des russischen Präsidenten Putin, dass es nach der Invasion in die Ukraine zu neuen kriegerischen Konflikten komme. Das sagt Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie.
14.10.2023, 17:5614.10.2023, 17:56
Francesco Benini, Raffael Schuppisser / ch media

Ist die Welt aus den Fugen?
Francis Cheneval: Die Welt war nicht früher einmal in Ordnung und ist es jetzt nicht mehr. Die Gesellschaft stand immer unter vielerlei Stress. Jetzt gibt es rückläufige Tendenzen bei Frieden, Freiheit, Demokratie. Das ist keine gute Entwicklung.

Warum die Häufung schwerer kriegerischer Konflikte?
Kriegerische Auseinandersetzungen waren nicht aus der Welt. Im Kongo gab es einen Krieg mit mehr als drei Millionen Toten. Das war bei uns kein grosses Thema. Der Angriffskrieg einer Militärmacht wie Russland gegen die Ukraine ist jedoch ein Dammbruch. Russland hat sich in diesem Krieg überstrapaziert und sucht nun Stellvertreterkriege, welche die Gegenseite binden. Putin hat ein Interesse daran, möglichst viele kriegerische Schauplätze zu öffnen oder indirekt zu befördern.

Glauben Sie, dass Putin involviert war in den Angriff der Hamas gegen Israel?
Die Beziehung zwischen Russland und Israel war vor dem Ukraine-Krieg recht eng. Mit dem Ukraine-Krieg wurde Russland abhängig von Drohnenlieferungen aus Iran. Die Achse zwischen Russland und Iran wurde gestärkt. Mit der iranisch finanzierten Hisbollah in Libanon arbeitet Russland schon lange zusammen. Es gibt ohne Zweifel eine Achse Moskau-Teheran, die direkt und indirekt am Werk ist. Die neue Entwicklung im Nahen Osten nützt Putin, nicht nur aus militärischen Gründen.

«Putin will die Energiepreise wieder in die Höhe treiben. Ein instabiler Naher Osten hilft da.»

Was liegt in seinem Interesse?
An der Israel-Frage wird sich der Westen eher spalten als an der Ukraine. Der Westen ist bisher ziemlich geschlossen in der Unterstützung der Ukraine gegen den Aggressor. Aber bei Israel brechen schnell Differenzen auf; das hat in Europa leider eine lange Tradition. Es gab zum Beispiel auch in der Schweiz Pro-Palästina-Demonstrationen unmittelbar nach dem Massaker in Israel. Gab es in der Schweiz prorussische Demonstrationen? Im Westen werden die Meinungen noch weiter auseinandergehen, wenn eine Bodenoffensive Israels im Gazastreifen viele zivile Opfer fordert. Ausserdem will Putin die Energiepreise wieder in die Höhe treiben. Ein instabiler Naher Osten hilft da.

Wie gross ist die Gefahr, dass sich der Krieg im Nahen Osten ausweitet?
Die Hisbollah aus Libanon und Iran mit Ablegern in Irak und Syrien werden sich möglicherweise beteiligen. Aber ein Krieg arabischer Staaten an der Seite der Hamas gegen Israel ist unwahrscheinlich.

War die Annäherung Saudi-Arabiens an Israel der Grund für die Attacke der Hamas?
Nein. Der Grund ist uralt: Die Hamas spricht Israel das Existenzrecht ab. Über Putin heisst es: Man solle lesen, was er geschrieben und gesagt habe - dann kenne man seine Absichten. Das gilt auch für die Hamas: Sie negierte immer schon das Existenzrecht Israels. Ein Angriff war eine Frage der Zeit.

Ein grosser Krieg droht, wenn China Taiwan angreift. Die USA würden an der Seite Taiwans intervenieren.
Für den chinesischen Präsidenten Xi Jinping ist die Vereinigung Chinas mit Taiwan ein erklärtes Ziel. Je schwächer, abgelenkter und uneins die USA und die Verbündeten wirken, desto grösser könnte der Anreiz für China sein, loszuschlagen. Es gibt mehr und mehr militärische Übungen rund um Taiwan. China hat die Produktion von Schiffsdiesel stark erhöht, was auf die Vorbereitung eines Krieges auf dem Meer deuten kann. Zurzeit ist China zwar auf Entspannung mit den USA aus, aber das ist vielleicht nur Blendwerk.

«Es gibt es rückläufige Tendenzen bei Frieden, Freiheit, Demokratie. Das ist keine gute Entwicklung», sagt der Philosoph Francis Cheneval.
«Der Westen hat es vernachlässigt, dafür zu sorgen, dass die Länder des Südens Nachteile erkennen, wenn sie nicht mit ihm kooperieren»: Francis Cheneval in seinem Büro der Universität Zürich.Bild: Dlovan Shaher

Der Westen ist in die Defensive geraten. Warum?
Ich sehe mehrere Gründe. Es gibt viele Länder, die sich fragen: Was haben wir zu verlieren, wenn wir uns im Konflikt zwischen dem Westen und Russland sowie China nicht auf die Seite des Westens stellen? Der Westen hat es vernachlässigt, dafür zu sorgen, dass die Länder des Südens Nachteile erkennen, wenn sie nicht mit dem Westen kooperieren. Historisch steht dort der Westen ja nicht für Freiheit, sondern für eine gewaltsame Kolonialisierung. Es gab weitere schwere Fehler.

Welche?
Der zweite Irakkrieg der USA erwies sich als illegitim. Wenn der Westen nun die Invasion in die Ukraine als völkerrechtswidrig verurteilt, erinnern ihn die Gegner an den zweiten Irakkrieg. Dieser Diskurs, der dem Westen eine Doppelmoral vorwirft, verfängt besonders in ehemals vom Westen kolonisierten Ländern. Die US-amerikanische Tradition des liberalen Internationalismus impliziert eine beständige Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Davon wandten sich die USA im Zeichen des Neokonservatismus ab. Sie sind der Ideologie des «exceptionalism» gefolgt: Die USA darf Angriffskriege führen, und diejenigen, die sie angeordnet haben, werden nicht zur Rechenschaft gezogen.

«Wir im Westen meinten: Demokratie, freie Marktwirtschaft und Wachstum gehören zusammen.»

Hat es der Westen versäumt, etwas zu unternehmen gegen die Allianz zwischen China und Russland?
Ich denke nicht, dass der Westen den Schulterschluss der Autokraten unter der Führung Chinas hätte verhindern können. Das Unangenehme für Putin ist, dass er die Rolle des Juniorpartners spielt. Der neue Kalte Krieg unterscheidet sich aber grundsätzlich von jenem im 20. Jahrhundert.

Was ist anders?
Die andere Seite hatte im 20. Jahrhundert ein Wirtschaftssystem, das in sich geschlossen, marxistisch und marode war. Nun betreibt aber die andere Seite auch ein kapitalistisches System, das Reichtum generiert und mit der Gegenseite sowie den Ländern zwischen den Polen eng vernetzt ist. Das Wohlergehen der USA und Europas kann man sich ohne Handel mit China und der autokratischen Welt derzeit schwer vorstellen.

Wie gefährdet ist das demokratische System dadurch, dass eine Diktatur wie China ein hohes Wirtschaftswachstum erreichen kann?
Wir im Westen meinten: Demokratie, freie Marktwirtschaft und Wachstum gehören zusammen. Nun stellen wir fest: Die freie Marktwirtschaft kann man durch Staatskapitalismus ersetzen, der Wachstum generiert und die Autokratie alimentiert. Das ist attraktiv für die Autokraten strukturschwacher Länder. Das chinesische Regime stützt sich auf Output-Legitimität statt auf Beteiligungslegitimität: Hunderte Millionen Menschen wurden aus der Armut gebracht, haben aber politisch keine Mitsprache. Afrikanische und südamerikanische Staaten versuchen, das Modell zu übernehmen und werden dabei von China unterstützt. Ich sehe ein grosses Aber.

Nämlich?
Es gibt eine globale Abstimmung mit den Füssen zugunsten der Demokratie. Wohin fliehen die Menschen, aus allen möglichen Ländern? In den Westen. Sie wollen nicht nur Geld, sie suchen Freiheit, Bildung, Kultur. Niemand will nach Russland, China, Iran. Die Demokratie ist derzeit unter Stress, auch als Opfer ihres Erfolgs, aber sie ist das resilienteste System. Schwierig sind die Übergangsprozesse von einer Autokratie zu einer Demokratie. Hat sich die Demokratie einmal auf einem angemessenen Wohlstandsniveau etabliert, hält sie sich.

«Ich kann nicht verstehen, warum der Westen die Ukraine nicht stärker unterstützt.»

Aber nicht immer?
Es gibt seit der Antike die Theorie der Regimezyklen: Jedes Regime - und damit auch die Demokratie - trägt den Keim seines Niedergangs in sich. Freiheiten können in der Demokratie missbraucht werden. Ist das exzessiv der Fall oder wird so wahrgenommen, werden die Leute empfänglich für Rufe nach einer starken Führung. Davon profitieren die Rechtspopulisten zum Beispiel, wie man zurzeit quer durch Europa beobachten kann. Ob sie die Demokratie zu Fall bringen können, bezweifle ich. Wenn es um das Ganze geht, erwacht die träge Mehrheit zugunsten der Demokratie.

Die Rechtspopulisten legen aber auch zu, weil Probleme nicht angegangen werden.
Einverstanden. Wenn Parteien im Zentrum sich nicht mehr trauen zu sagen, dass man die Einwanderung begrenzen muss; wenn sie es unterlassen zu sagen, dass die Eingewanderten auch aktiv betreut werden müssen, damit die Integration gelingt - dann kann der Eindruck entstehen, dass das liberale System der Entstehung von Parallelgesellschaften und ausländischem Bandenwesen hilflos ausgesetzt ist. In der Schweiz ist das bedeutend weniger der Fall als in Schweden oder Deutschland.

Zum Pessimismus, den man zurzeit in Europa feststellt, trägt bei: Der Krieg auf dem Kontinent zieht sich in die Länge. Und es droht ein sogenannter schmutziger Frieden. Russland behält die erbeuteten ukrainischen Territorien.
Ich kann nicht verstehen, warum der Westen die Ukraine nicht stärker unterstützt. Der Westen alimentiert eine Pattsituation, die zu sehr vielen Toten führt. Das halte ich für zynisch. Der Westen könnte die Ukraine mit Waffen unterstützen, sodass Russland die ukrainischen Territorien bald aufgeben müsste. Die amerikanische Militärdoktrin basiert auf «overwhelming power» - überwältigender Kraft. Diese muss gegeben sein, wenn man sich auf einen Krieg einlässt. Von der Ukraine wird erwartet, dass sie einen Krieg mit halber Kraft führt. Mit Panzern, aber ohne Flugzeuge et cetera.

Der deutsche Bundeskanzler Scholz will nicht, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird. Und er fürchtet eine atomare Eskalation.
Ersteres halte ich für legitim. Im zweiten Punkt erliegt Scholz einem Bluff Putins. Warum wiederholt man immer wieder, dass Putin den Krieg verlieren müsse - und handelt nicht danach? Man agiert halbherzig. Der radikale Pazifismus ist wenigstens konsistent, der halbherzige verlängert den Krieg und vergrössert das Leid.

«Es gibt es rückläufige Tendenzen bei Frieden, Freiheit, Demokratie. Das ist keine gute Entwicklung», sagt der Philosoph Francis Cheneval.
Francis Cheneval: «Man muss Trump sehr vieles vorwerfen, aber nicht, dass er ein besonders schlechter Geopolitiker wäre.»Bild: Dlovan Shaher

Viele Menschen fühlen sich zurückversetzt ins 20. Jahrhundert. Sie meinten, dass der Kampf gegen den Klimawandel nun im Vordergrund stehe, der Umgang mit künstlicher Intelligenz - dann gibt es einen grossen Krieg in Europa, der Nahostkonflikt eskaliert, und global stehen sich zwei Blöcke gegenüber.
Man dachte, wir seien in einem post-politischen Zeitalter angekommen, in dem es nur noch Sachprobleme zu lösen gilt. Wobei mit dem «Politischen» die Kontrolle von Territorium durch kollektive Identitäten und entsprechenden Institutionen gemeint ist. Die Konfrontation zwischen Machtblöcken kehrt nun wieder, weil die robusten Institutionen und die dazu erforderlichen kollektiven Identitäten notwendig sind, aber immer wieder zu pathologischen Selbstläufern werden. Francis Fukuyama wurde kritisiert, weil er 1992 das Ende der Geschichte konstatierte. Ich glaube, er wurde auch falsch verstanden: Er meinte, dass ein liberales, marktwirtschaftliches, freiheitliches Modell der Endzweck der Gesellschaft sein könnte. Sofern die Menschheit überhaupt ein Ziel erreicht, dann dieses. Andernfalls stürzt sie vorher ab. Dem stimme ich zu. Das liberale Modell ist dem chinesischen oder russischen in jedem Fall vorzuziehen.

Nächstes Jahr könnte alles noch schlimmer werden: Donald Trump zieht wieder ins Weisse Haus ein.
Man muss Trump sehr vieles vorwerfen, aber nicht, dass er ein besonders schlechter Geopolitiker wäre. Die USA stürzte sich unter seiner Führung nicht missionarisch in militärische Konfrontationen und bot China die Stirn.

Für Europa wäre es schlecht, wenn sich die USA aus der Nato zurückzögen. Unter Präsident Trump könnte das geschehen.
Lösen sich die USA aus der Nato, könnte Europa in Grabenkämpfen versinken. Es ist aber wahrscheinlicher, dass die EU-Staaten dann militärisch und politisch zusammenrücken. Trump würde so Europa unabsichtlich zusammenschweissen. Er wäre - mit Goethes Faust gesprochen - eine Macht, die das Böse will und doch das Gute schafft.

Was gibt Ihnen Hoffnung in diesen düsteren Zeiten?
Autoritäre Regimes brauchen sehr viel Geld, um einen Apparat zu unterhalten, der nichts anderes tut, als die eigene Bevölkerung zu knechten. Wie nachhaltig ist das? Einige Experten prophezeien China schwere Turbulenzen. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Diese Bilder zeigen: Der Krieg verschont die Kinder nicht
1 / 17
Diese Bilder zeigen: Der Krieg verschont die Kinder nicht
quelle: keystone / emilio morenatti
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Ukraine Dammbruch: So werden Mensch und Tier gerettet
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
20 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
George Cloowney & Brad Pildo
14.10.2023 18:21registriert November 2022
Putin ist eine beleidigte Leberwurst mit Atomwaffen und einem grossen Maul. Das wiederspiegelt auch sein Militär, die können nur Zivilisten abschlachten und Kühlschränke klauen. Immer ist er alleine und schaut drein wie ein geschlagener Hund, wenn er seinen Mist erzählt.

Barack Obama hatte vollkommen Recht als er von einer Regionalmacht sprach, schade blieb es nur bei dieser diplomatischen Beleidigung.
574
Melden
Zum Kommentar
avatar
Haarspalter
14.10.2023 23:11registriert Oktober 2020
«Die neue Entwicklung nützt Putin»

Im Westen hat Putin mit seinem absurden Krieg jeglichen Respekt als Staatschef verspielt - für immer.

China benutzt ihn lediglich als nützlichen Idioten, denn auch Xi gegenüber hat er sich und Russlands Streitkräfte mit seiner „Sonderoperation“ blamiert und sein Gesicht verloren.

Bleiben ihm noch ein paar Schurkenstaaten wie Nord Korea und Iran, sowie eine Handvoll Bananenrepubliken in Afrika für einen Schulterschluss.

Russland ökonomisch und gesellschaftlich ein Scherbenhaufen nach 20 Jahren Alleinherrschaft.
284
Melden
Zum Kommentar
avatar
tobianalogue
14.10.2023 23:07registriert Mai 2021
«Ich kann nicht verstehen, warum der Westen die Ukraine nicht stärker unterstützt.» – dieser Professor spricht mir sowas von aus dem Herzen!!!
235
Melden
Zum Kommentar
20
Nukleare Abschreckung: So schützt die NATO ihre Bündnispartner
Der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte will die nuklearen Fähigkeiten des transatlantischen Verteidigungsbündnisses stärker betonen.
Die NATO will künftig zur Abschreckung vor allem Russlands stärker die eigenen nuklearen Fähigkeiten herausstellen. «Es ist wichtig, dass wir mit unseren Gesellschaften mehr über nukleare Abschreckung sprechen, um sicherzustellen, dass sie verstehen, wie diese zu unserer allgemeinen Sicherheit beiträgt», sagte NATO-Generalsekretär Mark Rutte der «Welt am Sonntag».
Zur Story