Was kommt zuerst? Der Staat oder die Religion? Pünktlich zu Beginn des Prozesses im Zusammenhang mit dem islamistischen Attentat auf «Charlie Hebdo» veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Ifop eine Umfrage, die das Pariser Satiremagazin in Auftrag gab. Die Ergebnisse lassen aufhorchen. 40 Prozent der französischen Muslime stellen die religiösen Überzeugungen über die Werte der Republik, bei den unter 25-jährigen Muslimen sind es sogar drei Viertel.
Die Umfrageergebnisse werfen ein Schlaglicht auf das Problem der islamischen Parallelgesellschaften, mit denen Frankreich schon lange hadert. Erst kürzlich dokumentierte Islamforscher Bernard Rougier in einem Buch, wie stark in Banlieues von grossen Städten ein islamisches Gegenuniversum entsteht, in dem demokratische Werte wenig gelten, der Salafismus gedeiht und Frauen faktisch gezwungen werden, sich zu verschleiern.
Die Schweiz kennt keine religiös-ethnisch abgeriegelten Ghettos. Auch hierzulande entfachen aber regelmässig heftige Debatten um Handschlagverweigerer, den Schwimmunterricht, das Burkaverbot oder das Kopftuch in der Schule. Sie befeuern die Frage: Zählt für einige Muslime die Religion mehr als die Verfassung mit ihren individuellen Freiheitsrechten, haben sie antidemokratische Überzeugungen?
Antworten auf diese Frage gibt eine bis jetzt unbeachtete Umfrage aus dem Vorjahr, für welche die Universität Luzern 3000 Personen unterschiedlicher Konfession ab 16 Jahren befragen liess. Für 23 Prozent der befragten Muslime haben demnach die Regeln und Werte ihrer Religion im Konfliktfall Vorrang vor der Verfassung. Bei den Katholiken (13 Prozent) und Protestanten (12 Prozent) gilt deutlich seltener das Primat der Religion.
Eine Ausnahme bilden die Freikirchen: Für fast die Hälfte ihrer Anhänger zählt die Religion mehr als die Verfassung. Acht Prozent der Muslime wären zudem bereit, ihre religiösen Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Bei den Katholiken (3 Prozent), Protestanten und Freikirchen (je 1 Prozent) fällt dieser Anteil deutlich tiefer aus.
Was ist von diesen Umfrageergebnissen zu halten? Sind sie gravierend? Sind einige Muslime quasi «unzuverlässige Patrioten» wie die politischen Katholiken, die im 19. Jahrhundert lieber dem Papst folgten als dem Bundesstaat und deshalb als «Römlinge» verschrien waren? Studienautor Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern, warnt vor voreiligen Interpretationen.
Man dürfe solche Zahlen nicht kurzschlussartig als Ausdruck eines «Kampfes der Kulturen», also «Muslime gegen den Westen» lesen, wie dies etwa der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington getan habe.
Ob sich die demokratiefeindlichen Einstellungen tatsächlich aus dem Islam oder aus der autoritären politischen Kultur in bestimmten Herkunftsländern und persönlichen Charaktereigenschaften ableiten liessen, sei eine offene Frage, der er in weiterer Forschung nachgehen will.
Liedhegener bezeichnet die erwähnten Umfragewerte zunächst einmal als «gut», denn sie zeigten eine stabile Schweizer Demokratie. Das systemkritische Potenzial sei klein. Nur eine Minderheit in allen Gruppen, heisst es denn auch in der Studie, vertrete dogmatische oder fundamentalistische Positionen.
Die Grössenordnung decke sich kaum mit den generalisierten Bedrohungsszenarien, die in den Medien und in öffentlichen Debatten zu «dem Islam» vorherrschten. Bei einer Minderheit gebe es aber quer durch alle Religionsgemeinschaften undemokratische Einstellungen. «Eine offene Gesellschaft darf sich nicht damit abfinden», sagt Liedhegener auf Anfrage.
Zu den öfter vorkommenden demokratiefeindlichen Einstellungen bei der muslimischen Minderheit und der häufiger bejahten Gewaltfrage sagt er: «Diese Zahlen müssen nicht ängstigen, bieten aber aus Sicht der Zivilgesellschaft und des Schweizer Bundesstaates Grund zur Sorge.»
Als zielführenden Weg zur Besserung betrachtet Liedhegener den direkten politischen Dialog mit der muslimischen Gemeinschaft, um Fragen der Religionsfreiheit und Integration, aber auch Radikalisierungstendenzen zu diskutieren. Die Geschichte des Katholizismus zeige, dass es oftmals Zeit brauche, bis eine Religionsgemeinschaft entdecke, dass eine demokratische, vielfältige und tolerante Gesellschaft mit ihrem Glauben und ihren Werten vereinbar sei.
Beunruhigt über den Befund der Universität zeigt sich Menschenrechtsaktivistin und Islamismusexpertin Saida Keller-Messahli. «Dass 23 Prozent der Muslime in der Schweiz ihre religiösen über demokratische Regeln stellen, sollte alarmieren, denn das ist fast jede vierte muslimische Person in der Schweiz», sagt die Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam.
In der Schweiz leben rund 370'000 erwachsene Muslime. Auch die Gewaltbereitschaft bereitet Keller-Messahli Sorgen. «Acht Prozent entsprechen theoretisch rund 30'000 Personen», sagt sie. Die Interpretation der Autoren, wonach extremistische Strömungen bei allen Gruppen auftreten, sei wenig hilfreich. Sie würden das Problem verharmlosen.
Die Finanzierung von Moscheen und Einrichtungen der Muslimbruderschaft durch islamistische Golfstaaten, die französische Journalisten kürzlich im Buch «Qatar Papers» belegten, zeige nun ihre Früchte, sagt Keller-Messahli. Sie befürchtet, dass die Umfragewerte der Universität Luzern «uns vor Augen führen, wie sehr sich bereits ein religiöser Separatismus mit demokratiefeindlichen Traditionen etabliert hat».
Hier stellt sich also viel mehr die Frage, welche Werte diese Muslime über den Staat stellen. Ist es die Pflicht, Bedürftigen zu helfen? Oder sind es die Passagen die erlauben, die eigene Frau zu schlagen?