Eigentlich halten sich ehemalige Regierungsmitglieder mit Kritik an ihren Nachfolgern zurück. Doch nun brechen Ruth Dreifuss (SP) und Didier Burkhalter (FDP) ihr Schweigen.
Provoziert hat sie die Argumentation des Aussendepartements, wieso die Schweiz keine verwundeten und kranken Ukrainer aufnehmen kann. Dreifuss und Burkhalter legen gegenüber CH Media dar, wieso die Schweiz geradezu verpflichtet sei, den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen und sie in hiesigen Spitälern zu pflegen.
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Auslöser ist ein Tamedia-Bericht, der am Montag einen Entscheid des Aussendepartements EDA publik machte: Die Schweiz werde keine verwundeten Personen aus der Ukraine aufnehmen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine steigt die Zahl der Toten und Verwundeten.
Die UNO veröffentlichte vor einer Woche die aktuellsten Schätzungen, wonach über 5000 Menschen getötet und 6520 verletzt wurden – darunter mindestens 962 Frauen und 533 Kinder.
Doch die Versorgung der Verwundeten stockt, auch weil Spitäler überlastet oder zerstört sind. Über die Nato-Unterorganisation Euro-Atlantic Disaster Response Coordination Centre, welche die medizinische Hilfe koordiniert, erhielt auch die Schweiz im Mai eine Anfrage, ob sie Verletzte aufnehmen kann. Kantone sowie die Spitäler hätten positiv reagiert. Doch das EDA entschied sich zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) dagegen.
Das EDA sagt dazu, die betroffenen Departemente und Bundesämter hätten geklärt, ob die Schweiz auch in diesem Fall Verletzte aufnehmen könne. Die Abklärungen hätten ergeben, dass die Schweiz grundsätzlich mit ihrer Hilfe und ihrem humanitären Engagement vor Ort besser und effizienter unterstütze, als wenn Patienten in der Schweiz aufgenommen würden.
Das EDA macht auch «neutralitätsrechtliche Hindernisse» geltend, da es sich um die «Aufnahme militärischer Patienten» handle und eine Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Patienten kaum möglich sei.
Auf Anfrage von CH Media entgegnet Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss dieser Argumentation in aller Schärfe und erklärt in einer Stellungnahme, wieso die Schweiz ukrainische Verwundete aufnehmen und behandeln müsse. Vorab: Weil sie es kann.
Doch der Bund lehnte die Anfrage des Nato-Koordinationszentrums ab, obwohl diesem nicht nur Nato-Länder angehören, sondern auch Mitglieder der Partnerschaft für den Frieden. «Dieser ist die Schweiz 1996 unter anderem deshalb beigetreten, um sich an den humanitären Aktionen zu beteiligen», erinnert Dreifuss.
Die Sozialdemokratin hatte den Beweis der humanitären Hilfe selber angetreten. Als im Kosovo 1999 Krieg ausbrach, versprach sie in einer bemerkenswerten Erklärung an die Bundesversammlung, dass die Schweiz helfen werde.
Dreifuss zerpflückt die Argumentation des EDA, wonach die Schweiz als neutrales Land garantieren müsse, dass die in der Schweiz behandelten Soldaten nicht wieder in den Kampf ziehen. Diese Vorgabe ist in Artikel 37 der Ersten Genfer Konvention festgelegt. Dreifuss schreibt:
In den Erläuterungen zu Artikel 37 heisse es: Wann immer möglich, sollten die neutralen Mächte andere Lösungen in Betracht ziehen, wie zum Beispiel die Verpflichtung, die betroffene Person müsse sich regelmässig bei einer Polizeistation melden.
Als «besonders schockierend» taxiert Dreifuss das Argument, wonach auch Zivilisten nicht geholfen werden könne, weil sie sich von Soldaten nicht klar unterscheiden, da einige von ihnen zur Verteidigung ihres Landes auch zur Waffe gegriffen haben. Dreifuss erklärt:
Wenn die Spitäler bereit seien, ukrainische Verwundete und Kranke zu behandeln, dann müsse der Bund ihnen nicht nur die Erlaubnis dazu erteilen, verlangt Dreifuss. Er müsse die «Überführung der Kranken und Verletzten aus einem gemarterten Land in einen sicheren Hafen organisieren, wo sie behandelt werden können.»
Didier Burkhalter kritisiert weniger direkt und hält vorab mit Nachdruck fest, dass er sich vom politischen Leben zurückgezogen habe. Doch auch er widerspricht der Argumentation seines früheren Departements. Burkhalter äussert sich nur zu Grundsätzen, weil er weder Rahmen noch Überlegungen des Entscheids kenne.
Er betont die «weltweit geachtete» humanitäre Tradition und dass die Schweiz zur Aufnahme verletzter Personen humanitäre Prinzipien befolgen müsse. Konkret müsse sie offen bleiben, alle Menschen aufzunehmen, die Pflege benötigen, unabhängig auf welcher Seite im Krieg sie stehen. Und er sagt, die Aufnahme von Verletzten wie auch die Aufnahme von Flüchtlingen habe «nichts direkt mit Neutralität zu tun, sondern ist eine Frage grundlegender humanitärer Erwägungen».
Abschliessend urteilt Burkhalter: «Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Regierung diese Überlegungen im Wesentlichen teilen muss und ihre nächsten Entscheidungen an humanitären Grundsätzen ausrichten wird.» Denn diese seien zu einem grossen Teil in unserem Land entstanden.
(aargauerzeitung.ch)
Leuten nicht zu helfen, damit unsere Oligarchen ihre Geschäfte weiterführen können, ist wohl nicht das Ziel der CH.