Herr Cheneval, Deutschland und Österreich haben wieder Grenzkontrollen eingeführt. Grenzt das Vorgehen nicht an Verrat an den EU-Prinzipien?
Francis Cheneval*: Nein, denn Schengen sieht Ausnahmen vor und erlaubt explizit die vorübergehende Einführung von Grenzkontrollen.
Rechtfertigt die Flüchtlingskrise eine solche Massnahme?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass solche Grenzkontrollen eingeführt werden innerhalb des Schengener Abkommens. Die Ausnahmefälle waren bisher vor allem Gipfelkonferenzen oder Fussball-Europameisterschaften. Diesmal ist der Anlass ein anderer. Wenn aber ein Fussballturnier vorübergehende Grenzkontrollen erlaubt, dann sind die Voraussetzungen jetzt auch gegeben.
Erst hat Deutschland das Dublin-Prinzip ausgesetzt und Syrer willkommen geheissen. Nun kontrolliert es Flüchtlinge an der Grenze wieder. Was wird mit dieser widersprüchlichen Politik bezweckt?
Deutschland ist nicht grundsätzlich von seiner Politik abgewichen, sondern kauft sich mit den Grenzkontrollen Zeit, um sich besser zu organisieren. Denn in gewissen Städten sind die Notkapazitäten erschöpft.
Liegt die Taktik nicht viel mehr darin, den Druck auf andere Staaten zu erhöhen, damit diese dem Verteilschlüssel doch noch zustimmen?
Ich denke nicht. Der Druck erhöht sich damit auf Staaten, die ohnehin hohe Flüchtlingszahlen aufweisen. Grossbritannien wird sich davon nicht beeindrucken lassen.
Müssen wir uns in Europa wieder an Grenzkontrollen gewöhnen?
Die zeitliche Begrenzung ist bei der Flüchtlingskrise weniger gegeben als bei einem Fussballturnier. Es könnte sein, dass die vorgesehene zeitliche Begrenzung der Grenzkontrollen nicht eingehalten wird. Schengen sieht aber auch die Möglichkeit vor, den Zeitraum von Grenzkontrollen zu verlängern.
Deutschland gehört zum «Alten Europa». Haben Grenzkontrollen nicht negative Auswirkungen auf die Vision eines geeinten Europas?
Was wir erleben, ist typische Merkel-Politik. Sie steht für die europäischen Werte ein, macht aber kluge Schritte, um die Sache innenpolitisch unter Kontrolle zu halten. Um der Bevölkerung zu signalisieren: Wir sind entgegen der Kritik kein Hippie-Regime, das nun auf Flowerpower setzt und ein Wohlfühlsystem einführt, sondern eine politische Behörde, die Probleme wertebasiert und verantwortungsbewusst angeht.
Wie kann die EU vor allem die osteuropäischen Länder dazu bringen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
Es geht ja nicht nur um die Aufnahme. Man könnte auch über eine gerechtere Verteilung der Kosten diskutieren. Die osteuropäischen Länder stehen übrigens gar nicht so schlecht da, wenn man bei der Verteilung der Betreuungskosten auch die Wirtschaftskraft der Länder berücksichtigt.
Dennoch: Wie bringt man die Osteuropäer dazu, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
Über Anreize, sicher nicht mittels Repression. Wenn man sich im Osten etwas verspricht von der EU, dann ist es die Schaffung von qualifizierten Arbeitsplätzen.
Dann muss sich die EU die Zustimmung der Osteuropäer erkaufen?
Die EU ist kein Staat, der mit zentralistischen Massnahmen, etwa Notstandgesetzen, eine Krise managen kann, sondern ein etwas schwerfälliges, aber im Grunde erstaunlich solides Verhandlungssystem.
Die EU muss nun auch mit einem Viktor Orbán verhandeln. Sie sagten einst, dass die Integration von rechtspopulistischen Kräften der EU mehr Legitimität verleiht. Wie das?
Ich sagte, dass Nationalkonservative im EU-Parlament zu mehr Repräsentativität und Legitimität führen. Viktor Orbán ist nicht EU-Parlamentarier. Dennoch erinnert er daran, dass es in den Mitgliedstaaten 25 bis 30 Prozent Nationalkonservative gibt. In einer nachhaltig demokratischen EU müssen diese Kräfte letztlich im offenen politischen Wettbewerb geschlagen werden.
Es mag die Legitimität stärken, die Entscheidungskraft der EU wird mit den nationalistischen Politiken aber geschwächt. Was macht denn Europa überhaupt noch aus?
Die EU ist mehr als ihr Flüchtlingsproblem und sie ist nur so gut wie die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, an ihr teilzuhaben. Wer mehr zentralistische Kompetenzen befürwortet und glaubt, damit würden sich die Probleme lösen, der irrt, weil zentralistischer Druck die Europhobie vergrössert. Die EU ist nach wie vor als Gemeinschaft von einzelnen Mitgliedsvölkern zu verstehen.
Es gibt also Platz für nationale Politik in der EU. Eigentlich attraktiv für die Schweiz.
Hierzulande wird die EU als Zentralisierungsmonster dargestellt. Ich glaube, das ist eine selektive Wahrnehmung. Innerhalb der EU gibt es Regeln mit vielen Ausnahmen und das Gebilde zeichnet sich durch einen grossen Spielraum für nationale Eigenheiten aus. Allerdings sind die komplizierten Kompromisse relativ träge. Mit der Trägheit geht aber Stabilität einher.
Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die EU in der Flüchtlingskrise eine Lösung findet?
Ich bin eher optimistisch, insbesondere weil der «gutwillige Hegemon» Deutschland in einer sehr guten Verfassung ist, sowohl ökonomisch als auch politisch.
Hat ihr Optimismus gelitten in der Flüchtlingskrise oder zugelegt?
In der Griechenlandkrise hat er mehr gelitten als in der Flüchtlingskrise. Denn die Eurokrise ist hausgemacht. Bei der Flüchtlingskrise kommt etwas auf die EU zu, das sie nicht ursächlich zu verantworten hat. Sie kann positiv punkten, wenn sie diese grosse Herausforderung einigermassen in den Griff bekommt und dabei ihren Prinzipien treu bleibt.
Dann trägt Europa keine Verantwortung an den globalen Migrationsströmen?
Doch, schon, aber in den USA ist die Wahrnehmung so, als hätte die ganze Flüchtlingskrise in Europa nichts mit den USA zu tun. Dabei hat Europa nur die Folgen einer Destabilisierung einer ganzen Region geerbt, an der die USA in der jüngeren Geschichte mehr Verantwortung tragen als die meisten EU-Mitgliedstaaten und die EU als Ganzes.
Wie meistert die EU denn Krisen?
Die EU hat es bisher immer knapp geschafft, ihre Strukturen krisengerecht anzupassen. Das kann auch so weitergehen, wenn die einzelnen Regierungsvertreter nicht Verstand und Verständigungsbereitschaft verlieren.
Wiederwahlen und Verstand sind ein verschiedenes Paar Schuhe. Seit wann verhalten sich Politiker vor allem vernünftig?
Weil die EU ein System ist, in welchem die intergouvernementalen Konsultationen wöchentlich auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Da ist keiner mehr völlig allein. Viele zusammen laufen weniger Gefahr, den Verstand zu verlieren, als einer alleine.