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Dokumente zeigen, warum der Bundesrat 1991 plötzlich in die EU wollte

Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, Rene Felber und Adolf Ogi erklären am 22. Oktober 1991 ihr Ja zum EWR und zur damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG).
Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, Rene Felber und Adolf Ogi erklären am 22. Oktober 1991 ihr Ja zum EWR und zur damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG).bild: keystone

Bislang geheime Dokumente zeigen, warum der Bundesrat 1991 plötzlich in die EU wollte

01.01.2022, 16:5402.01.2022, 13:05
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Während sich in Osteuropa die alte Ordnung immer mehr auflöst und im Nahen Osten Krieg herrscht, ringt die Schweiz 1991 um das richtige Verhältnis zur Europäischen Union. Der neue Band der Reihe «Diplomatische Dokumente der Schweiz» (Dodis) erlaubt es, in die Schweizer Aussenpolitik jenes Jahres einzutauchen.

Die diplomatischen Dokumente aus dem Jahr 1991 sind seit dem Neujahrstag freigegeben. Sie zeugen von heftigen Diskussionen um den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und den Herausforderungen, mit denen die Schweizer Aussenpolitik durch den Ausbruch des Golfkriegs und der Bürgerkriege in Jugoslawien konfrontiert war. Die Forschungsstelle Dodis hat 62 Dokumente ausgewählt und in einem neuen Band veröffentlicht.

Während 1990 ein von Hoffnung geprägtes Übergangsjahr gewesen war, stellte 1991 die Schweiz vor eine ganze Reihe neuer Herausforderungen. Die europäische Integration blieb das Hauptproblem. «Die Frage der künftigen Beziehungen mit Europa schien ungewisser denn je, und der Bundesrat so gespalten wie nie zuvor», erklärt dazu der Historiker Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle.

Streit um den EWR

Während 1990 der EWR als «dritter Weg» zwischen Alleingang und dem Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft als einzige tragfähige Lösung erschien, war der Bundesrat im Folgejahr in dieser Frage tief gespalten. Im März schlug der damalige Bundespräsident Flavio Cotti seinem Bundesratskollegen Jean-Pascal Delamuraz vor, die seiner Ansicht nach «demütigenden» EWR-Verhandlungen möglichst schnell zugunsten eines Beitrittsgesuchs zu unterbrechen, wie der neue Dodis-Band klar macht.

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bild: dodis.ch

Die Diskussion an der Bundesratssitzung vom 17. April 1991 war demnach beispielhaft für die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gremiums. Finanzminister Otto Stich zeigte sich überzeugt, dass ein schlechter Vertrag niemals als Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden könne. Der EWR-Vertrag stehe dafür, dass die Schweiz zum Satellitenstaat werde.

Aussenminister René Felber unterstrich dagegen die zahlreichen vorteilhaften Punkte, die selbst ein unausgewogener Vertrag für die Schweiz habe. Verteidigungsminister Kaspar Villiger stellte gemäss dem Auszug aus den Archiven fest, die Schweiz begebe sich auf die Schiene einer mit einem Autonomiestatut ausgestatteten Kolonie.

Unter Druck

In Gesprächen mit den europäischen Partnern versuchten die Mitglieder der Landesregierung mehrfach, ihrer Unzufriedenheit über den Gang der Verhandlungen Ausdruck zu verleihen. Der Druck auf Bern war stark, einige sprachen gar von einem «Modernitätsdefizit» der Schweiz.

Schliesslich akzeptierten in der Nacht des 22. Oktobers 1991 die Bundesräte Delamuraz und Felber im Namen der Landesregierung das Ergebnis der Verhandlungen in Luxemburg – und erklärten den Beitritt der Schweiz zur EU zum strategischen Ziel. Im November stellte die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) nüchtern fest, die bevorstehende Abstimmung über den EWR-Vertrag sei «noch nicht gewonnen». Tatsächlich lehnte das Volk den EWR-Vertrag dann ab.

700-Jahr-Feier

1991 feierte die Schweiz auch 700 Jahre Eidgenossenschaft. In diesem Kontext fand die erste Jugendsession statt. Die Jungen verlangten bei dieser Gelegenheit eine solidarische Schweiz. «Die Jungen haben ein aussenpolitisches Programm erarbeitet, das den damaligen Geist der Öffnung und Erneuerung atmet», sagt dazu Zala.

Die Dodis-Dokumente können auf der Website www.dodis.ch gratis eingesehen werden. Wie es das Gesetz von 1998 vorsieht, sind Dokumente nach dem Ablauf einer 30-jährigen Frist freigegeben. Für einige Dokumente, die schützenswerte Personendaten enthalten, gilt allerdings eine 50-jährige Frist.

Die Forschungsstelle Dodis ist ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, die sie seit dem Jahr 2000 finanziert. Als Kompetenzzentrum für die Geschichte der Aussenpolitik der Schweiz betreibt Dodis Grundlagenforschung zur Zeitgeschichte der Schweiz seit 1848. (sda)

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65 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Lowend
01.01.2022 17:22registriert Februar 2014
Ich empfehle wirklich allen, die die Schweiz als eine Diktatur empfinden, einen Blick auf die Seite www.dodis.ch zu werfen, denn dort kann man anhand offizieller Dokumente all die Entscheide nachvollziehen, die der Bundesrat und seine Diplomaten gefällt haben.

Eine offenere Diktatur kenne ich nicht und manche nennen es auch sehr demokratisch, dass praktisch alle offiziellen Dokumente, nach Ablauf einer Schutzfrist, öffentlich einsehbar sind.
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Rethinking
01.01.2022 20:23registriert Oktober 2018
Neben der EU Läbder gehören den EWR Island, Liechtenstein und Norwegen an…

Keinen dieser drei Länder geht es meines Erachtens schlecht…
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Juliet Bravo
01.01.2022 21:08registriert November 2016
Beim Abbruch der Verhandlungen des Rahmenabkommens zu den Bilateralen 2021 dachte ich an Jean-Pascal Delamuraz‘ Aussage des Dimanche Noir von 1992, dem EWR-Nein.
Wir sollten die Bilateralen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen!
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