Der erste Prozesstag ist vorbei. Was gab unter den Prozessbeobachtern am meisten zu reden?
William Stern: Das Auftreten des mutmasslichen Täters Thomas N., der äusserlich extrem gefasst wirkte und sachlich zur Tat Auskunft gab. Er war nicht das Monster, als das er im Vorfeld in gewissen Berichten dargestellt worden ist. Wüsste man nicht, was ihm vorgeworfen wird, er wäre schlicht ein ganz normaler junger Mann: modisch gekleidet, zurückhaltendes Auftreten, sichere Wortwahl.
Jemand, der nicht auffallen würde, wenn man ihm im Alltag begegnet.
Ja. Das wurde ja auch schon im Vorfeld betont: Thomas N., der unscheinbare Nachbar, Hundeliebhaber, Fussballtrainer. Tatsächlich war Thomas N. ja ein absolut unbeschriebenes Blatt. Keine Vorstrafen, keine Auffälligkeiten. Jedenfalls nicht bis ca. zum 20. Lebensjahr. Das ist auch das, was die beiden psychiatrischen Gutachter ihm attestieren. Dass er zwar eine narzisstische Störung und eine Abweichung vom normalen sexuellen Verhalten aufweist, also pädophil ist, aber keine psychischen Störungen feststellbar sind, die eine Schuldunfähigkeit rechtfertigen würden.
Thomas N. gab nüchtern über seine Tat Auskunft. Zeigte er gar keine Emotionen?
Personen, die weiter vorne sassen, sagten, er habe einmal während der Befragung des einen Sachverständigen Tränen in den Augen gehabt. Von meiner Position aus, habe ich dies nicht gesehen. Ansonsten lauschte er am Morgen mit unbewegter Miene, hatte den Kopf in die Hände gestützt und den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Am Nachmittag fiel auf, dass er sich oftmals mit Phrasen aushalf, mehrmals hatte ich das Gefühl, dass er sich ärgerte, weil er auf so viele Fragen nur nichtssagende, inhaltsleere Antworten hatte: ‹ich weiss es nicht›, oder: ‹es ist schwierig zu erklären›.
Der Beschuldigte sagte aus, dass er bereits auf dem Weg nach Hause die Tat ernsthaft bereut habe. Kauft man ihm als Prozessbeobachter diese Reue ab?
Ohne das Gutachten und den Menschen Thomas N. im Detail zu kennen, ist dies extrem schwierig zu beurteilen. Im Verlauf des Prozesses kam das Thema Reue natürlich mehrmals auf – am deutlichsten vielleicht im Zusammenhang mit einem Brief, den N. im Sommer 2016 an die Angehörigen geschrieben hatte. Dabei warfen ihm die Anwälte der Opfer vor, dass im Brief eine Entschuldigung fehle. Heute gab er sich vor Gericht zwar zerknirscht. Eine echte Entschuldigung blieb aber wiederum aus. Thomas N. begründete dies damit, dass er den Ablauf der Gerichtsverhandlung nicht stören und auf den dafür vorgesehen Moment warten wolle.
Machte es den Eindruck, dass er versucht das Gericht zu manipulieren?
Die beiden psychiatrischen Gutachter sagten beide unabhängig voneinander, dass N. eine manipulative Ader habe. Auch einzelne der Opfervertreter gingen bei der Befragung in diese Richtung. Mir kam es aber zumindest heute nicht so vor. Ob seine Aussagen taktisch motiviert waren, liegt am Gericht zu beurteilen. Wenn dem so wäre, muss man sich fragen, warum er nicht deutlicher Reue gezeigt und eine klare Entschuldigung ausgesprochen hat.
Hat er sich im Verlauf des Tages in Widersprüche verstrickt?
Diese Frage stellt sich in diesem Prozess vielleicht weniger als in anderen. Thomas N. ist geständig, er streitet die Tötung der vier Personen in Rupperswil nicht ab. In Widersprüche verstrickte er sich allerdings beim Motiv. Ob der sexuelle Missbrauch oder seine finanziellen Sorgen im Vordergrund der Tat standen, ist nicht klar. Und auch beim zweiten Sachverhalt, in dem es um Vorbereitungshandlungen für allfällige weitere Taten ging, wirkte er nicht wirklich konsistent in seinen Aussagen.
Wieso?
Thomas N. behauptete heute vor Gericht, er wäre nie ein weiteres Mal zur Tat geschritten. Trotz der Erkundungen und Recherchen, die er im Kanton Solothurn und Bern unternommen hat. Trotz der gefälschten Urkunden, die ihn als Sozialarbeiter einer Schule ausweisen sollten. Trotz der Tasche, die er mit sich führte, und die mit den gleichen Utensilien bepackt war wie schon in Rupperswil. Er wollte das alles – jedenfalls im juristischen Sinn – nicht als konkrete Vorbereitungshandlungen für eine weitere Gewalttat verstanden wissen. Allerdings sagte er in den Verhören zuvor auch aus, dass auch in der Zeit vor der Tat diese nur ein Konstrukt in seinem Kopf gewesen sei.
Wie haben die Anwesenden im Saal auf die Aussagen von Thomas N. reagiert?
Es hat in meinen Augen erstaunlich wenig emotionale Reaktionen gegeben. Jedenfalls weniger, als man in einem solchen Fall vielleicht erwartet hätte. Wobei man sagen muss: Es gab ein deutliches Übergewicht von Medienvertretern. 65 Journalisten zu ungefähr 30 Zuschauern. Bei den Zuschauern und den Angehörigen konnte man am Nachmittag, bei der Befragung von Thomas N., vereinzelt Regungen ausmachen, die das komplette Unverständnis ausdrückten. Über die Aussagen von Thomas N., über seine starke Ich-Bezogenheit, aber wohl auch über seine – angesichts der Schwere der Tat – fast totale Emotionslosigkeit.
Mit was für einem Gefühl hast du den Saal verlassen?
Vor allem ratlos. Das Einordnen dieser Tat fällt schwer. Dass eine Person plötzlich, gegen Aussen aus dem Nichts heraus, von einem unscheinbaren Durchschnittsmensch zu einem Mörder werden kann. Ohne jegliche Erklärung, weder für sich selbst, noch für die Öffentlichkeit, zuallerletzt für die Angehörigen. Der Fall zeigt auch, dass es ‹das Böse› so nicht gibt. Auch wenn man sich das vielleicht manchmal wünschte, weil die Abgrenzung dann vermeintlich leichter fiele.
Es ist die Ohnmacht der Betroffenen die schmerzt. Eine Ohnmacht aus der man in diesem Fall nicht entkommen kann. Verstehen wird man diesen Fall nie.
Aber dafür müsste man sich halt auch wirklich für seine Mitmenschen interessieren und das ist mühsam und zeitaufwändig.