Die Straftat geschah an einem Dienstag. Es ist der einzige Tag der Woche, an dem das Restaurant La Piazza beim Bahnhof Arth-Goldau geschlossen ist. Der damals 55-jährige Wirt nutzte den freien Tag Ende Juni 2020 für einen Ausflug ins Berner Oberland. Mit seiner Frau durchquerte er die Aareschlucht und besichtigte die Hängebrücke beim Sustenpass.
Das war zu viel Programm für einen Tag. Die Wanderung und der Höhenunterschied machten ihn müde. Trotzdem setzte er sich für die Heimfahrt ans Steuer seines Autos. Seine Frau schlief auf dem Beifahrersitz ein. Und auch der Fahrer nickte ein.
Ein Knall weckte das Paar kurz vor 18 Uhr. Der BMW kam von der Strasse im Kanton Uri ab und krachte in eine Strassenlampe. Alle Airbags explodierten. Neben der Strasse kam das Auto zum Stehen. Niemand wurde verletzt. Das Auto hatte Totalschaden.
Die Staatsanwaltschaft verurteilte den Lenker per Strafbefehl, weil er «in fahrunfähigem Zustand» Auto gefahren ist. Wer übermüdet einen Unfall verursacht, handelt fahrlässig. Er hätte die Ermüdungsanzeichen erkennen und auf die Fahrt verzichten müssen.
Der Mann erhielt eine bedingte Geldstrafe mit einer Probezeit von zwei Jahren und eine Busse von 900 Franken. Damit verbunden war ein Eintrag im Strafregister. Dieser kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt – während seines laufenden Einbürgerungsverfahrens.
Der Wirt stammt aus der Türkei. In jungen Jahren war er Mitglied einer illegalen linken Partei und nahm an Demonstrationen teil. Deshalb verurteilte ihn die türkische Justiz damals zu 12,5 Jahren Gefängnis. Mit 28 Jahren flüchtete er in die Schweiz. Das war 1994. Zwei Jahre später erhielt er Asyl. Die Schweiz anerkannte ihn als politischen Flüchtling. Mit seiner Frau hat er zwei Söhne, die derzeit als Sekundarlehrer und auf einem Arbeitsvermittlungsbüro arbeiten.
Bis heute fürchtet er sich vor Repressionen des türkischen Staates, wenn er in seiner alten Heimat Ferien macht. Deshalb erscheint sein Name in diesem Text nicht. Bei einem Besuch in seinem Restaurant erklärt er sich zwar bereit, sich fotografieren zu lassen. Er will aber nicht posieren. Die Fotografin soll ihn einfach so zeigen, wie ihn seine Gäste sehen: bei der Arbeit.
Schon in der Türkei arbeitete er im Service. In der Schweiz wechselte er die Branche. Zuerst lebte er im Kanton St. Gallen, wo er in der Wattefarbrik in Flawil Fliessbandarbeit fand. Er übernahm die Nachtschichten, weil diese besser bezahlt wurden. Sein rechter Zeigefinger erinnert daran: Ein Stück der Fingerbeere fehlt. Um die Kasse zu bedienen, benützt er die anderen Finger.
Eigentlich wollte er nicht zurück in die Gastrobranche, wo die Arbeitstage lang sind und auch das Wochenende ausfüllen. Doch ein Freund überredete ihn, es mal in der «Piazza» zu probieren. Er kam 2007 probeweise und blieb bis heute. Mit seiner Frau wirtet er inzwischen als Pächter und finanziert damit sechs Vollzeitstellen und drei Aushilfen.
Das Lokal hatte viele Wirtswechsel hinter sich. Mit ihm kehrte Konstanz ein. Er frischte die Beiz auf und bietet italienische und Schweizer Küche an. Vor den Fenstern gedeihen sorgsam gepflegte Orchideen.
Die «Piazza» ist ein fester Bestandteil der Schwyzer Vereinskultur. Denn es ist das einzige Lokal, das den Vereinen kostenlos ein elegantes Sitzungszimmer zur Verfügung stellt. Sie zahlen nur, was sie konsumieren.
Am 1. Mai feierten hier die SP und die Gewerkschaften. An anderen Tagen kommen die Trychler oder der Skiclub, wo der Wirt selber Mitglied ist und bei Clubrennen hinter dem Grill steht. Er sagt: «Am besten kann ich mich beim Skifahren oder Wandern in der Schweiz entspannen.» Er kennt alle Berge, auf die ein Wanderweg führt.
Als er dies erzählt, sitzen vier Damen in seinem Restaurant bei einem Kaffeekränzchen und kichern. Eine Frau fragt in die Runde: «Wisst ihr, welches der höchste Gipfel im Ybrig ist?» Alle zucken mit den Schultern. Es ist eine der berühmt-berüchtigten Einbürgerungsfragen.
Der Wirt bestand die Einbürgerungsprüfung der Gemeinde Arth. Die Anforderungen sind hier höher als anderswo, zum Beispiel das verlangte Sprachniveau. Den grössten Teil seines Lebens hat der heute 60-Jährige in der Schweiz verbracht. In einem gewissen Alter habe er sich gefragt:
Seine Antwort war das Einbürgerungsgesuch.
Die Schwyzer Regierung musste die Einbürgerung nur noch formal überprüfen. Doch just dann erschien sein Verkehrsdelikt im Strafregister. Die Regierung stoppte die Einbürgerung deshalb. Denn sein Delikt sei nicht harmlos. Seine Integration sei zwar ansonsten aussergewöhnlich gut, doch sein strafrechtlicher Leumund sei dadurch getrübt.
Das Staatssekretariat für Migration regelt das Vorgehen in solchen Fällen in seinem Handbuch Bürgerrecht. Wer eine Freiheitsstrafe absitzen muss, erhält nach der Bewährungszeit eine zusätzliche Wartefrist von zehn Jahren. Wer übermüdet in einen Pfosten fährt, muss nach der zweijährigen Bewährung noch drei weitere Jahre warten. Deshalb sistierte die Regierung das Einbürgerungsverfahren für fünf Jahre.
Dagegen ging der Wirt vor das Verwaltungsgericht. Er argumentierte:
Und er erhielt Recht. Das Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde teilweise gut und verkürzte die Wartefrist auf zwei Jahre. Wenn der Wirt in der Probezeit nicht mehr straffällig wird, solle ihn die Regierung einbürgern, urteilte das Gericht.
Diese Frist lief ihm August 2022 ab. Der Wirt bewährte sich. Die Regierung hiess deshalb seine Einbürgerung gut.
Doch nun intervenierte das Staatssekretariat für Migration und verweigerte ihm die Einbürgerungsbewilligung des Bundes. Er müsse die vorgegebene Fünf-Jahres-Frist einhalten. Der Wirt legte wieder Beschwerde ein, die das Bundesverwaltungsgericht ablehnte.
Nun wird das Bundesgericht den Fall am 21. Mai behandeln. In 99 Prozent der Fälle sind die Richterinnen und Richter gleicher Meinung und urteilen in einem schriftlichen Verfahren. Bei Differenzen hingegen berufen sie eine öffentliche Beratung ein. Eine solche findet nun im Fall des Goldauer Wirts statt. Auf dem Prüfstand steht die Einbürgerungspraxis des Bundes.
Frank Urbaniok ist forensischer Psychiater und hat in seiner Karriere Tausende Straftäter beurteilt. Erkenntnisse daraus publizierte in seinem umstrittenen Buch «Schattenseiten der Migration», das an Ostern auf Platz 1 der Bestseller-Liste der Taschenbücher einstieg.
Er fordert darin 17 Massnahmen gegen Ausländerkriminalität. Die Schweiz solle weniger Personen aus Nationen einbürgern, die in der Kriminalitätsstatistik negativ auffallen. Dazu zählt die Türkei. Menschen mit dieser Herkunft werden in der Schweiz häufiger beschuldigt als Schweizer. Urbaniok begründet dies mit kulturellen Prägungen.
In der Statistik erscheint auch der Wirt aus Goldau als krimineller Ausländer. Ist es deshalb konsequent, dass die Migrationsbehörde seine Einbürgerung gestoppt hat?
Urbanioks Antwort fällt nicht so aus, wie man dies vielleicht erwarten würde. Er bezeichnet den harten Kurs der Behörde in diesem Fall als «unverhältnismässig». Denn der Mann habe keine schwere Straftat begangen.
Urbaniok sieht ein grundsätzliches Problem:
Am 21. Mai werden in Lausanne die Richterinnen und Richter darüber streiten und entscheiden. Sie stützen sich auf die Akten und hören die Parteien nicht an. Diese müssen deshalb nicht erscheinen.
Doch der Wirt aus Goldau wird an diesem Tag im Justizpalast Platz nehmen. Er will damit auch eine Besonderheit des höchsten Schweizer Gerichts kennenlernen. Dass Richter ihre Meinungsunterschiede vor Publikum austragen, das wäre in der Türkei undenkbar.
Wie das Urteil ausfallen wird, spielt für den Wirt persönlich allerdings keine Rolle mehr, weil das Verfahren bereits so lange gedauert hat. Im August wird die Fünfjahresfrist ablaufen. Dann wird er ohnehin seine Einbürgerung feiern können.
Dennoch hält er an seiner Beschwerde fest. Er sagt:
(aargauerzeitung.ch)
«Diejenigen hart anzufassen, die eigentlich problemlos sind, ist viel einfacher, als bei denen klare Kante zu zeigen, die wirkliche Probleme verursachen. So ist es oft: Gerne kontrollieren und lösen wir das, was einfach zu kontrollieren und zu lösen ist, statt das, was wichtig und schwierig ist.»
Ich denke, hier ist alles gesagt: verbissene Härte gegen kleine Fische oder gegen diejenigen, die anderen keinen Schaden zugefügt haben, während Haie gefüttert werden.
Da genügt eine einfache Google-Abfrage und man sieht das.