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Mit Pierin Vincenz muss in der Schweiz ein Grossbankchef sühnen

Raiffeisen-Prozess: Mit Pierin Vincenz muss in der Schweiz ein Grossbankchef sühnen

Das Urteil im Verfahren gegen Pierin Vincenz, den früheren Leiter der drittgrössten Schweizer Bank, ist ein Novum in der hiesigen Rechtssprechung. Es könnte über die Grenzen hinaus Schule machen.
14.04.2022, 10:54
Daniel Zulauf / ch media
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«Ich bin mir bewusst, dass ich Fehler gemacht und übertrieben habe. Aber nie habe ich mit dem Vorsatz gehandelt Raiffeisen oder Aduno zu schädigen.» Mit diesem scheuen Versöhnungsversuch hatte sich der frühere Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz Ende März, am letzten Tag des Strafprozesses gegen ihn und sechs Mitbeschuldigte, von der grossen Bühne verabschiedet. Der ehemalige CEO, der sich zu besseren Zeiten mit der Auszeichnung schmücken durfte, der einzige in der breiten Schweizer Öffentlichkeit beliebte Bankmanager zu sein, strahlte nach acht langen und bisweilen zermürbenden Verhandlungstagen immer noch viel Zuversicht aus.

Der ehemalige Raiffeisenchef Pierin Vincenz, Mitte, verlaesst mit Anwalt Lorenz Erni die Urteilseroeffnung des Raiffeisen-Prozesses des Zuercher Bezirksgerichts, am Mittwoch, 13. April 2022 vor dem Vo ...
Pierin Vincenz nach der Urteilseröffnung am 13. April. Bild: keystone

Der Protagonist verlässt die Bühne konsterniert und zerknittert

Nach der Urteilseröffnung von gestern Mittwoch verliess er den mit Medienvertretern aus dem ganzen Land voll besetzten Theatersaal im Zürcher Volkshaus wortlos – konsterniert und mit zerknitterter Mine, wie einige Journalistinnen und Journalisten beobachtet haben wollten.

Vincenz erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten, abzüglich 106 Tage Untersuchungshaft und nach Abzug einer neunmonatigen Haftgutschrift, die ihm das Gericht für die mediale Vorverurteilung zugestanden hatte. Das Verdikt erfüllt zu drei Vierteln die Maximalforderung der Staatsanwaltschaft, die auf sechs Jahren Freiheitsentzug gelautet hatte.

Veruntreute Spesen, ertrogene Gewinne aus Firmenverkäufen

Vincenz sei in seiner Interpretation von Geschäftsspesen «deutlich zu weit» gegangen und habe sich zum Beispiel im Fall eines Nachtessens mit einer Tinder-Bekanntschaft im Zürcher Nobelhotel Storchen auch der Veruntreuung schuldig gemacht. Bei den diversen Firmentransaktionen habe er sich unter anderem durch die Nichtoffenlegung von Interessenskonflikten der Verletzung der Treuepflicht schuldig gemacht. Als Betrug qualifizierte das Gericht die klandestine Teilung von Gewinnen aus Firmenverkäufen zwischen Vincenz und Stocker.

«Das Urteil ist falsch, wir werden in Berufung gehen», liess Vincenz seinen Verteidiger Lorenz Erni ausrichten. Der Verurteilte schenkte den vor dem improvisierten Gerichtssaal wartenden Fotografen und Kameraleuten kein Lächeln mehr wie noch vor drei Wochen. Keine Spur von jener «Arroganz der Mächtigen», wie sie der frühere Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann 2004 zur Schau getragen hatte, als er noch vor Beginn des Mannesmann-Prozesses in die Linsen der Kameras strahlte und seine Finger medienwirksam zum Victory-Zeichen reckte.

Viele Pleiten und Pannen aber keine Schuldigen

Seit jenen Jahren ist viel passiert. Die Finanzkrise brachte weltweit vermeintlich sichere Banken ins Wanken. Weltweit wurden Steuergelder zur Sicherung des globalen Finanzsystems investiert. Ackermann hat seinen guten Ruf als visionärer Architekt einer globalen deutschen Grossbank längst verloren. In der Schweiz schrammte die UBS haarscharf am Abgrund vorbei. Die Orgien aus dem grossen High-Noon der Finanzbranche liegen der Credit Suisse heute noch schwer auf dem Magen. Kein ehemaliger Chef dieser Banken wurde jemals zur Verantwortung gezogen – mindestens nicht im strafrechtlichen Sinn. Dasselbe gilt auch für den weltgrössten Finanzplatz, die USA.

Hüben wie drüben musste sich die Öffentlichkeit mit der Binsenwahrheit begnügen, dass nicht alles was nach einem kriminellen Vergehen aussieht auch ein solches ist. Die kolossalen Fehlleistungen, welche sich die internationale Kreditwirtschaft und die direkt mit ihr verbundenen Branchen in der Finanzkrise geleistet hatten, mussten die geschockten Steuerzahler nolens volens als Ausdruck von kollektiver Gier und Dummheit hinnehmen, für die es keinen Straftatbestand gibt.

Der ehemalige Vontobel-Chef kam 2010 straffrei davon

Um ins Schweizer Bild zurückzukommen: Das vorliegende Urteil im Raiffeisen-Prozess steht auch in krasser Diskrepanz zum «umfassenden Freispruch», den die vormaligen Chefs der Bank Vontobel 2010 vom Zürcher Bezirksgericht erhalten hatten. Das Trio mit Ex-CEO Jörg Fischer war des gewerbsmässigen Betrugs und anderer Delikte während der Zeit der grossen Börsenblase im Jahr 2000 angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren. Für die Beschuldigten war der Freispruch ein Triumph, für die Klägerin aber eine Demütigung.

Gewiss, der Vontobel-Fall lässt sich mit dem Raiffeisen-Fall nicht direkt vergleichen. So wenig wie das fahrlässige Geschäftsgebaren der Finanzbranche das in Krisenzeiten immer wieder zum Vorschein kommt und zeigt, wie gut manche Banken darin sind Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren.

Simple Erklärungsversuche: «Ein Versehen» hier,« mangelnde Erfahrung» da

Trotzdem drängt sich der Vergleich mit dem aktuellen Raiffeisen-Urteil auf. So genau wie in diesem Fall hat in der Schweiz noch nie ein Gericht die Fehltritte eines Grossbankchefs unter die Lupe genommen. «Es war ein Versehen», musste Vincenz zugeben, als er vom Gericht gefragt wurde, weshalb er 2015 auch das Flugticket seiner Lebenspartnerin von Amsterdam nach Dubai als geschäftliche Auslage durch die von ihm geführte Raiffeisen-Bank bezahlen liess. Mangelnde Erfahrung sei der Grund gewesen, weshalb Vincenz seine private Beteiligung am Bezahlterminaldienstleister Commtrain dem von ihm selbst präsidierten Aduno-Verwaltungsrat nicht offenlegte und so einen Millionengewinn aus der späteren Übernahme kassierte.

Striplokale, Villen und fragwürdige Geschäfte – darum geht es beim Raiffeisen-Prozess

Video: watson/Corsin Manser, Emily Engkent

Die Staatsanwaltschaft hat dazugelernt

Dass das Gericht überhaupt in die Lage kam solche simplen Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche zu hinterfragen dürfte auch viel mit der Qualität der Anklage zu tun haben. Offenbar haben die Staatsanwälte in Zürich aus den herben Niederlagen der vergangenen Jahre ihre Lehren gezogen und auch gegen Wirtschaftsgrössen wie Pierin Vincenz ein Erfolgsrezept gefunden.

So gesehen ist das Urteil ein Novum für die Schweiz, das vielleicht sogar noch über die Grenzen hinaus Schule machen könnte. Noch sind die Urteile gegen Vincenz und seine sechs Mitbeschuldigten nicht rechtskräftig. Aller Voraussicht nach wird auch der zweite Hauptbeschuldigte, der Zürcher KMU-Berater Beat Stocker, in die Berufung gehen. Er ist zu vier Jahren Haft verurteilt und hat mit einem Rekurs viel zu gewinnen.

Der Mythos vom CEO mit «Herzblut» bleibt nicht unwidersprochen

Das Zürcher Obergericht mag die Erwägungen die das Bezirksgericht in der 500 Seiten starken, noch unveröffentlichten Urteilsbegründung zu Papier gebracht hat anders gewichten – möglicherweise zu Gunsten der Beschuldigten. Aber die umfang- und detailreiche Vorlage aus der ersten Instanz, die sich mitunter auf eine 360 Seiten starke Anklageschrift stützt, wird auch in die Arbeit der Oberrichter einfliessen.

Das ist gut so. Gut ist aber auch, dass sich Gerichte nun auch intensiv mit den Fehlern von Bankchefs auseinandersetzen müssen. So bleiben Behauptungen wie jene von Vincenz er habe sich stets «mit Herzblut» für die gute Entwicklung der von ihm geführten Firmen eingesetzt nicht einfach im Raum stehen. (saw/aargauerzeitung.ch)

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kong
14.04.2022 11:06registriert Juli 2017
Konkret… ich darf also Hotelspesen und Ausgang mit Tinder-Kontakten nicht mehr auf Kosten meines Arbeitgebers abziehen?! Wie krass!

Ich frage für einen Freund…
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