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9-Euro-Ticket: Für 9 Euro durch die Pampa

Mit dem 9-Euro-Ticket gibt es keine Traktorfahrt.
Mit dem 9-Euro-Ticket gibt es keine Traktorfahrt.bild: watson.ch

Von Berlin bis Lotzwil: Für 9 Euro durch die Pampa

In Deutschland kannst du für 9 Euro einen Monat lang überall Zug fahren (Ausnahme: Schnellbahnstrecken). Der Selbstversuch ergibt: Berlin-Basel in einem Tag funktioniert. Sogar ohne nennenswerte Verspätungen.
10.07.2022, 15:49
Johann Aeschlimann
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Energie und Nahrung werden knapp – die Welt muss sparen lernen. Die deutsche Regierung, grün, rot und gelb wie sie ist, gibt kontra: Bis Ende August unbeschränktes Reisen in Bus, U-Bahn, Tram und Regionalbahnen für 9 schlappe Euro pro Monat: Tankrabatt für Arme.

Da kannst du nichts sagen – vor allem nicht, wenn du kein deutscher Steuerzahler bist. Statt ein Ticket für den ohnehin verspäteten ICE (mein Rekord: 3 Stunden 15 Nachspielzeit – ohne Barbetrieb) zu kaufen, reise ich am Montag, 27. Juni mit dem 9-Euro. Das Ziel: Zu einigermassen christlichen Zeiten an einem Tag von Berlin/Zoo nach CH-4932. Dorthin, wo die Schweiz am durchschnittlichsten ist.

Die Kurzfassung: Es klappt. Alle Züge sind neu, sauber, bequem. Die grössten Schwierigkeiten bot die Querung der Zonengrenze zwischen der Europäischen Union und der Eidgenossenschaft in Basel. Aber der 9-Euro-Fahrschein funktioniert. Für Leute ohne grosses Portemonnaie, mit Drang in die Ferne, lohnt sich der Blick in den Fahrplan der Deutschen Bahn («Nur Nahverkehr» klicken).

Hier der längere Routenbeschrieb.

06:17 Berlin – Magdeburg

Abfaht Berlin/Zoologischer Garten mit dem RE 2 (3106) bis Magdeburg. Beim Einstieg ist der Zug voll Pendler. Er hält in Charlottenburg und Wannsee, zieht weiter ins Brandenburgische nach Potsdam, Werder an der Havel, Brandenburg, Wusterwitz und ins nächste Land, Sachsen-Anhalt, mit Halt in Genthin, Güsen, Burg und über die Elbe nach Magdeburg. Die Ankunft ist pünktlich um 07:51. Von der Stadt ist nichts zu sehen, ausser kurz die Domspitzen.

08:26 Magdeburg – Sangerhausen

Abfahrt mit dem RE10 (74841) Richtung Erfurt. Es geht elbaufwärts, nahe am Fluss, der aber meistens unsichtbar bleibt. Halte in Bucken und Schönebeck a. d. Elbe, dann Richtung Südwest. Die Fahrt führt durch Gegenden, die du weder auf der Autobahn noch im ICE zu sehen bekommst, die «neuen Länder» auf dem Lande, alte Industrieruinen, trostlose Stationen, versiffte Wartehäuschen, kleines Gewerbe, gelegentlich ein neuerer Betrieb. Die Sehenswürdigkeiten, Mansfeld und Eisleben etwa, wo Martin Luther aufwuchs, liegen nicht an der Strecke. Sie führt nach Stassfurt, Güsten, Sandersleben, Hettstedt, Klostermansfeld und Sangerhausen, wo umzusteigen ist.

Sangerhausen: Da war ich schon. «Zu DDR-Zeiten» wurde hier noch Kupferbergbau betrieben – ein Geschäft, das sich nur in der Abschottung vom Weltmarkt lohnte, der Kupfer zu einem Bruchteil des einheimischen Preises handelte. Grösster Arbeitgeber waren die Mitteldeutschen Fahrradwerke MIFA, die Velos für den Osten und für das Billig-Segment in Westdeutschland herstellten. Nach der Wende wurde der Betrieb von der Treuhandanstalt «abgewickelt», die Belegschaft von 1500 auf 100 reduziert.

Damals war ich wegen einer «Geschichte» in Sangerhausen, in der es um böses Blut unter den Abgewickelten, Misstrauen gegen Wendegewinnler aus dem Westen und zwei gescheiterte Schweizer Investoren ging. Ohne eine Ahnung, weder vom Fahrradbau noch von den lokalen Gegebenheiten, hatten sie die Maschinen und das Lager des ehemals volkseigenen Betriebs gekauft und sich in der Herstellung neuartiger Zweiräder versucht. Ich erinnere mich, einen Prototyp aus Holz gesehen zu haben. Nach zwei Jahren gaben die Schweizer auf. Als ich Sangerhausen besuchte, waren sie nur noch in der Schweiz zu erreichen, wohl klugerweise, denn der Unmut vor Ort äusserte sich in robuster Wortwahl. Heute ist das Firmenzeichen MIFA von der Bahn aus weiterhin zu sehen, und im Internet ist zu lesen, dass die Fabrik nach einer Reihe weiterer Konkurse derzeit «Zweirad Union E-Mobility» firmiert, mit 75 Arbeitern. Die Webseite der «Zweirad Union» nennt sie «Mitarbeiter» und versichert, dass sie alle «mit Leidenschaft und Begeisterung» ihrem Tagwerk nachgehen.

Immerhin haben sie Arbeit.

Als ich die Region besuchte, gegen Ende 1995, wies sie eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands auf. Ein Regionalplaner erklärte damals ohne Umschweife, dass für viele Menschen nur die Abwanderung eine realistische Option darstelle. Hier sei nichts mehr zu machen. Ich stelle mir vor, dass ein Regionalplaner in der Sahel-Zone oder auf einer absaufenden Südseeinsel, vielleicht von einem Entwicklungshilfekredit finanziert und persönlich gut abgesichert, seinen Klienten ähnliche Ratschläge erteilt. Der Zug erreicht Sangerhausen pünktlich um 09:47, Gott sei gepriesen: Hier ist die kürzeste Umsteigezeit geplant.

09:53 Sangerhausen – Kassel

Abfahrt mit dem RE9 (74704) nach Kassel-Wilhelmshöhe. Es geht dem Südhang des Harzgebirges entlang, zunächst nach Sachsen-Anhalt, dann Thüringen: Wallhausen, Bennungen, Rossla, Berga-Kelbra, Görsbach, Heringen, Nordhausen. Für die Autofahrer markiert die Landkarte die «Strasse der Romanik» und die «Deutsche Fachwerkstrasse». In Nordhausen füllt sich der Zug mit Schulreiseschülern. Mir gegenüber setzt sich ein junger Mann, ich nenne ihn Heiko. Heiko hat ein grosses Loch in der Kehle. Er ist ein verunglückter Bergsteiger, vor anderthalb Jahren in Bayern abgestürzt, fünf Rippen gebrochen, zwei in die Lunge gespiesst, Luftröhrenschnitt, massenweise Brüche, künstliches Koma – the works. Jetzt ist er wieder auf dem Damm. Er reist mit dem 9-Euro bis Eichenberg, wo die Freundin wartet, dann geht es mit ihr weiter bis Sylt. Die Freundin hat alles «organisiert», Heiko trottet mit. Wo werden sie schlafen? «Am Strand». Die Sylter sind sauer, weil die 9-Euros ihnen die Strassen verpissen und die Strände versauen, vielleicht muss Heiko sich auf mehr gefasst machen als Sand im Schlafsack.

Weiter dem Harz entlang: Wolkramshausen, Bleicherode Ost, Leinefelde, Heilbad Heiligenstadt. Hier war Theodor Storm einmal Kreisrichter, und es soll weiterhin Kurbetrieb geben. Vom Bahnhof aus ist davon nicht viel zu sehen, ein einziges Gebäude erinnert mit etwas gutem Willen an bessere Zeiten. In Eichenberg steigt Heiko aus, dann passieren wir irgendwo die ehemalige Zonengrenze; der nächste Halt, Witzenhausen Nord, liegt bereits in Hessen. Weiter nach Hann-Münden, wo Werra und Fulda zur Weser zusammenfliessen. Kurz vor zwölf erreicht der Zug den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Die Ankunftszeit 11:53 wird nur unwesentlich verpasst.

12:29 Kassel – Frankfurt/M

Abfahrt mit dem RE 30 (4159) nach Frankfurt am Main. Auf der Anzeigetafel wird ein anderer Zug auf demselben Perron angezeigt, aber was einfährt, ist der richtige. Es geht nach Wabern, Borken, Treysa, Neustadt, Stadtallendorf, Kirchhain. Hier beginnt nicht gerade bekanntes, aber befahrenes Gelände. In Kirchheim hatte ich mich im vergangenen Jahr mörderisch verirrt, als ich mit dem Velo das Lahntal hinauf Richtung Göttingen fuhr. Der Zug hält in Marburg und Giessen, dann Friedberg und kommt mit Verspätung in Frankfurt am Main an. Statt 14:49 ist es bereits drei Uhr nachmittags.

Apropos Fahrrad. Die Mitnahme im Regionalzug ist gestattet, die Wagen sind alle eingerichtet. Aber die Plätze sind knapp, weil begehrt. Es kann sein, dass ein Radfahrer steckenbleibt.

Bild
bild: watson.ch

15:12 Frankfurt – Mannheim

Abfahrt mit dem RE 70 (4573) nach Mannheim. Die Strecke ist hier dichter getaktet, der Zug ziemlich voll, man hält in Frankfurt-Niederrad, Walldorf, Mörfelden, Gross Gerau-Dornberg, Riedstadt-Goddelau. Wir sind jetzt bereits im Rheintal, aber vom Fluss ist nirgendwo etwas zu sehen. Stockstadt am Rhein, Biebesheim am Rhein, Gernsheim, Gross Rohrheim, Biblis (zwei Atomreaktoren in der «Nachbetriebsphase»), Bürstadt, Lampertheim, Mannheim-Waldhof. Hier blinkt eine rote Lampe im Gedächtnis: SV Waldhof Mannheim 07, Sepp Herberger stürmte hier in den Zwanzigerjahren, in den Achtzigerjahren war der SV in der Bundesliga, bis 1990. Heute 3. Liga. Die Ankunft in Mannheim ist auf 16:19 geplant, wir treffen leicht später ein. Aber es reicht.

16:36 Mannheim – Karlsruhe

Abfahrt mit der S9, relativ pünktlich. Der Zug ist platschvoll, der Feierabendverkehr hat schon eingesetzt. Ein Viererabteil ist nur von einem Rucksack und zwei Personen besetzt, einer jungen Frau und einem mittelalterlichen Mann. Sie schiessen Blicke, gewähren mir aber Zutritt. Ich bitte sie, die Masken anzuziehen, die nur am Kinn hängen (in Deutschland ist in der Bahn Maskenpflicht, FFP2). Die junge Dame tut es. Der Mann nicht. Ich sage ihm, dass ich Maskentragen auch unangenehm finde, aber wenn ich muss, muss er auch. Herr Kinnmask sagt: «Setzen Sie sich doch an einen anderen Ort». Er spricht mit Akzent. Ich denke nicht, dass er sich über meinen Akzent mokieren will, sondern vermute, er sei auch ein Zugewanderter, wie ich. Ich mache Herrn Kinnmask darauf aufmerksam, dass seine Anregung nicht praktikabel sei, was ihn unbeeindruckt lässt. Er fläzt sich über seine zwei Sitze und lässt die dreckigen Turnschuhe auf der Sitzfläche ruhen, die von der über den Gurt hinaus hängenden Wampe auch fast berührt wird.

Die Gegend ist hier dichter besiedelt als weiter östlich. Nichts Schönes, eher Jurasüdfuss. Stationen sind Mannheim-Neckarau, Mannheim-Rheinau, Schwetzingen, Hockenheim, Neulussheim, Waghäusel, Wiesental, Graben-Neudorf, Friedrichstal, Blankenloch, Karlsruhe-Hagsfeld. Dort steht der Zug eine Weile still, der Lautsprecher gibt eine Entschuldigung von sich. Herr Kinnmask rülpst, von tief unten in der Wampe. Die Ankunft in Karlsruhe Hbf ist auf 17:23 terminiert, aber als wir einfahren, ist es fast halb sechs. Man muss sich sputen, um den Anschluss zu erwischen. Es klappt.

17:39 Karlsruhe – Basel Badischer Bahnhof

Abfahrt mit der RE 7 (17023), auch dieser Zug ist sehr voll. Man hält in Rastatt, Baden-Baden, Bühl, Achern, Renchen, Appenweier, Offenburg. Hier steht auch dieser Zug still, es gibt eine Baustellenverspätung. Weiter nach Lahr, Herbolzheim, Kenzingen, Riegel-Mahendingen, Emmendingen, Denzlingen, Freiburg im Breisgau, Bad Krozingen, Heintersheim, Müllheim, Weil am Rhein. Die Ankunft in Basel wäre gemäss Fahrplan um 20:01, aber wir haben zehn Minuten Verspätung. Über die Grenze in Basel Bad Bf (die Ansage artikuliert buchstabengetreu «Batt Bee Eff») endet die 9-Euro-Fahrt. Weiter geht es mit Schweizer Billett zu Schweizer Preisen.

Mit Glück könnte ich nun den ICE 373 Berlin–Interlaken (Berlin ab: 12:31) erwischen, der mit über fast einer Stunde Verspätung angekündigt wird und nicht eingetroffen ist. Ich gehe das Risiko nicht ein und nehme das Zweiertram. Der Trampilot sieht, wie ich am Automaten ein Billett löse und zum Wagen schreite, und just als ich den Knopf an der Türe drücke, drückt er aufs Pedal und fährt los. Ein sicheres Zeichen: Wir sind in der Schweiz.

20:55 Basel SBB – Olten

Abfahrt mit dem IC 61, Ankunft in Olten 21:25. Problemlos. Ich trage als einziger Maske. Wir sind in der Schweiz.

21:36 Olten – heimwärts

Abfahrt mit dem schicken neuen Interregio-Zug, Ankunft in der Metropole des Oberaargaus um 21:47, sofortiger Umstieg auf die Huttwilbahn («Huttuschnägg»), Ankunft im Dorf 21:55. Der Tankstellen-Shop hätte noch fünf Minuten offen, aber die Distanz ist zu weit.

Zum Start der Sommer-RS – so ging es den Soldaten 1975

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Fernweh? Ferien sind auch nicht immer lustig
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Fernweh? Ferien sind auch nicht immer lustig
Endlich am Strand angekommen.
quelle: imgur
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Schiff zerbricht in zwei Teile – Rettung in letzter Sekunde per Helikopter
Video: watson
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