«Wie stehen Sie zur Körperstrafe?» Diese Frage richtete Josef Hoppler am 23. Mai 2003 an die Führungsriege der Domino-Servite-Schule. Der St.Galler Erziehungsrat hatte im Sitzungszimmer 302 zu einer Aussprache geladen, nachdem erneut schwere Vorwürfe gegen die evangelikale Schule in Kaltbrunn laut geworden waren (siehe Chronologie ganz unten).
Die Internatsleiterin, der Schulleiter sowie der Schulpräsident Walter Mannhart reagierten ungläubig, wie aus dem Protokoll der Sitzung hervorgeht. Die Internatsleiterin antwortete, Körperstrafen seien «absolut keine Option». Im Protokoll heisst es: «Alle bestätigen die Antwort mit Kopfnicken.» Vielmehr wolle man im Umgang miteinander «die traditionelle christliche Grundhaltung» weitergeben, erklärten sie.
Ebenfalls anwesend war Esther Läderach, Frau des ehemaligen Schoggi-Patrons Jürg Läderach und Vize-Schulleiterin. Sie beschrieb den Führungsstil so: «Es braucht immer beides, eine Autorität und eine Partnerschaft.»
Die Botschaft der geläuterten Führungstruppe: Züchtigungen mit dem Ledergurt, tagelanger Essensentzug oder die rigide Verbotskultur waren das Werk ihres Vorgängers gewesen, des 2002 entlassenen Predigers Hans Koller. Nun, nachdem Jürg Läderach die Leitung der Mission Kwasizabantu Schweiz übernommen und die Schlüsselpositionen an der dazugehörigen Schule ausgetauscht hatte, sollten solche Zustände der Vergangenheit angehören. Dazu fasste die Schule 2002 offiziell den Beschluss, auf Körperstrafen zu verzichten.
Doch zu einem Bruch mit dem bisherigen System Domino Servite («Dienet dem Herrn») kam es nicht.
Tatsächlich wirkte das, was ehemalige Zöglinge später als «Theologie der Angst» und «Kultur der Denunziation» bezeichneten, unvermindert weiter. Statt von Prügelstrafen berichteten die Opfer im unabhängigen Untersuchungsbericht des ehemaligen Bundesrichters Niklaus Oberholzer fortan von sexuellen Übergriffen und Missbrauch.
Zehn ehemalige Schülerinnen und Schüler sagten aus, dass zwischen 2002 und 2006 ein Lehrer «offensichtlich die Nähe und Berührung mit seinen Schülerinnen» gesucht habe. Sie empfanden das als «Belästigung und Grenzüberschreitung». Trotz Protest der Eltern unternahm die Schulleitung nichts. In der Gemeinde herrschte die Lehre vor, dass die Gehorsamkeit der Frau der Schlüssel zur intakten Familie sei. Die Frau müsse jederzeit zur Verfügung stehen.
Der Antritt von Jürg Läderach und der neuen Schulleitung begründete keinen Neuanfang. Die Verantwortlichen schützten die Schulkinder nicht vor den Übergriffen und billigten diese womöglich sogar. Auch das hielt der unabhängige Untersuchungsbericht fest.
Mehr als 20 Jahre später präsentiert die Evangelische Gemeinde Hof Oberkirch erneut die Erzählung eines Neustarts. Sie hat sich vor vier Jahren von der südafrikanischen Mission Kwasizabantu losgesagt. Sie hat ihren Namen geändert, den besagten Untersuchungsbericht in Auftrag gegeben und nach dessen Publikation die Führung ausgetauscht. Seither besetzt die «neue Generation» die Leitungspositionen in Gemeinde und Schule. Sie verspricht einen Neuanfang.
Seit SRF in einem Dokfilm über die erschreckenden Zustände an der Vorgängerschule Domino Servite berichtet hat, steht dieses Versprechen unter besonderer Beobachtung. Denn es stellen sich tatsächlich Fragen.
Recherchen zeigen: Exponenten, die ab 2002 nicht gegen die Missbräuche eingeschritten sind, besitzen in Schule und Gemeinde weiterhin Einfluss. Und die neue Führungsriege ist familiär und ideologisch eng mit der alten Garde der Domino-Servite-Zeit verbunden.
Da ist zum Beispiel die Immobilienfirma Hof Oberkirch AG. Ihr gehören sämtliche Liegenschaften der Glaubensgemeinschaft, inklusive der Schule. Im Verwaltungsrat sitzen bis heute zwei Personen, die den Hof Oberkirch mitaufgebaut haben: Ex-Chocolatier Jürg Läderach sowie Walter Mannhart. Er amtete über zwei Jahrzehnte lang als Schulratspräsident der Domino-Servite-Schule. Auch Jürg Läderach sass im Schulrat und predigte in der Gemeinde. Die beiden stehen sich auch geschäftlich nahe. Mannhart arbeitete bei der Confiserie Läderach in Ennenda GL als Einkaufsleiter und engagierte sich als Aktuar für den «Marsch fürs Läbe», wo auch Läderach aktiv war.
Für die Missstände an der Schule nach 2002 tragen beide als Führungspersonen eine Mitverantwortung. In verschiedenen Schreiben an die Gemeinde baten sie um Entschuldigung: Man habe die «Zeichen zu lange nicht wahrgenommen» und sich «zu schnell mit einfachen Antworten und Erklärungen zufriedengegeben».
Die Aktiengesellschaft, die Läderach und Mannhart steuern, war und ist für den Betrieb der Schule wichtig. Diese nennt sich mittlerweile Christliche Schule Linth und betreut 48 Kinder, vom Kindergärtner bis zur Sekundarschülerin. Sie finanziert sich über Schulgelder und Spenden. Doch ohne die Firma Hof Oberkirch geht es nicht: Sie besitzt alle Immobilien an der Adresse. Gemäss einer Bilanz von 2001 war die AG mit einem Betrag von rund 1.7 Millionen Franken an der Schule beteiligt. Welche Anteile Jürg Läderach an der Firma hält, ist nicht bekannt.
Ein Sprecher bestreitet, dass die Firma Einfluss auf Gemeinde und Schule habe.
Das Immobilienvehikel pflegt daneben fruchtbare Geschäftsbeziehungen mit dem Glarner Schoggi-Imperium, wie ein aktuelles Beispiel zeigt. In Bilten GL bauen die Läderachs derzeit eine neue Schokoladenfabrik. Die Parzelle von 21'000 Quadratmetern haben sie der Hof Oberkirch AG abgekauft, wie im Grundbuch ersichtlich ist.
Früher hätten auf dem Gelände zweimal Jährlich sogenannte «Freizeiten» stattgefunden, sagt eine Quelle. «Da kamen bis zu Tausend Sektenmitglieder aus aller Welt zusammen und sogar Kwasizabantu-Gründer Erlo Stegen hat dort gepredigt.» Jetzt soll dort Premium-Schokolade für den Weltmarkt produziert werden.
Auf dem Hof Oberkirch sind alteingesessene Familien, private Geschäfte, evangelische Gemeinde und christliche Schule nicht voneinander zu trennen. Die Verstrickungen versucht Läderach-CEO Johannes derzeit zwar zu entwirren, indem er in eine andere Freikirche wechselte und kürzlich ankündigte, seine drei Kinder aus der Schule zu nehmen. Eine seiner Schwestern amtet aber noch immer als Schulleiterin. Ihre Ausbildung hat sie an einem College der Kwasizabantu-Mission in Südafrika absolviert.
Eng verbunden mit der Familie Läderach ist auch die Leiterin des Schulsekretariats. Ihre Schwester ist mit Johannes Läderach verheiratet. Die Frau des Läderach-Chefs unterrichtete drei Jahre lang an der Christlichen Schule Linth. Die Stelle hat sie diesen Sommer aufgegeben, wie jetzt bekannt wird. Ein Sprecher der Familie erklärt, dieser Schritt passe zur seit längerem geführten Diskussion, auch die eigenen Kinder von der Schule zu nehmen. «Das Ehepaar Läderach hat entschieden, die eigenen Kinder an einer anderen modernen Schule mit Beginn des neuen Schuljahres anzumelden.»
Eine weitere Verbindung führt zum Glarner Schoggi-Imperium. Das Schulratspräsidium hat Josua Hausmann übernommen. Sein Bruder bekleidet bei Läderach eine Führungsposition. Der Manager legt Wert darauf, nichts mit der Gemeinde zu tun zu haben und seinen eigenen Weg zu gehen. Die Mutter der beiden war bei Kwasizabantu ein «Mitglied der ersten Stunde», wie es ein Insider formuliert.
Wenig überraschend präsentiert sich auch die Führung der evangelischen Gemeinde als dynastische Angelegenheit. Es sind die Nachkommen einflussreicher strenggläubiger Familien, die bereits vor 20 Jahren auf dem Hof Oberkirch aktiv waren.
Exemplarisch dafür steht die neue Gemeindeleitung unter Josef Morger. Dessen Vater sei ein «Hardcoreprediger aus der Kwasizabantu-Zeit» gewesen, sagt ein Kenner der Szene. Josefs Bruder Josija ist ebenfalls Teil der Gemeindeleitung. Er sitzt zudem im Verwaltungsrat der Immobilienfirma Hof Oberkirch sowie im Vereinsvorstand der Schule.
Der Hof Oberkirch wird durch ein eng gestricktes Netzwerk zusammengehalten. Die alte und die neue Führung sind entweder miteinander verwandt, verschwägert oder geschäftlich verbandelt.
Ist in einem solchen System überhaupt ein Neubeginn ohne Altlasten möglich? Ein Aussteiger, der die Bewegung seit Jahren kritisch begleitet, zweifelt daran. «Die schöne neue Welt der Evangelischen Gemeinde Hof Oberkirch ist derart deckungsgleich mit der alten Welt, dass man sich fragt, ob dort tatsächlich etwas neu ist ausser ein paar Äusserlichkeiten drum herum.»
Ein Sprecher der Gemeinde sagt, für die Neuorientierung und die Abkehr von «einer Lehre der Angst» spreche nicht nur die radikale Trennung von Südafrika, sondern vor allem auch der Neun-Punkte-Plan, der unter anderem eine Ombudsstelle beinhaltet. «Im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen wurden nicht nur die Missstände der Vergangenheit komplett offengelegt, sondern auch Instrumente eingeführt, die eine Wiederholung unmöglich machen sollen.» Er betont weiter, dass Schule wie Gemeinde es begrüssen würden, wenn die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe aus dem unabhängigen Bericht untersucht.
«Die neuen Führungen haben sich öffentlich von der früheren Lehre distanziert. Zu dem Team, das die Neuaufstellung unterstützt hat, zählen Personen, die selbst Opfer von Misshandlungen waren und dies auch gegenüber der unabhängigen Untersuchungskommission offengelegt haben», betont der Sprecher. «Diesen Personen den Willen zur Veränderung und damit zur Erneuerung abzusprechen, wäre geradezu zynisch. Die Evangelische Gemeinde Hof Oberkirch wie die Schule haben sich in den Führungsgremien von allen Personen getrennt, die als Täter identifiziert wurden.»
Wer die Erneuerung in Zweifel ziehe, weil diese teilweise von Kindern ehemaliger Verantwortlicher durchgeführt werde, spreche der heutigen Generation eine eigene unabhängige Überzeugung ab und nehme sie in Sippenhaft, so der Sprecher der Gemeinde.
Kein Problem im evangelikalen Mikrokosmos auf dem Hof Oberkirch sieht der Kanton St.Gallen. Die Christliche Schule Linth gebe aktuell zu keinen Beanstandungen Anlass, erklärte der Regierungsrat kürzlich.
Mit Blick auf die schweren Missbräuche in der Vergangenheit hielt die Regierung fest, die damalige Schulaufsicht habe «das Erwartbare und Zumutbare vorgekehrt». Dass es damals nicht gelungen sei, die Verdachtsmomente zu konkretisieren, sei erklärbar und mache heute keine neue Untersuchung erforderlich. Dennoch wolle man prüfen, inwieweit die Aufsicht über die Privatschulen noch weiter ausgebaut werden könne, ohne dass damit die verfassungsmässig garantierte Privatschulfreiheit in Frage gestellt werde.
Was passierte wann auf dem Hof Oberkirch? Eine Rekonstruktion anhand eines exklusiven Blicks in die Akten des St.Galler Bildungsdepartements.
Hans Koller und Jürg Läderach eröffnen mit Weggefährten die Domino Servite Schule (DSS) in Kaltbrunn. Die Ideologie ist geprägt von der südafrikanischen Sekte Kwasizabantu.
Ein Aussteiger aus der Kwasizabantu-Sekte wendet sich an die Behörden. Er berichtet von systematischen Schlägen und einer «Mauer des Schweigens», die die Schule umgebe.
Das St.Galler Erziehungsdepartement leitet ein Verfahren ein, um der DSS die Bewilligung zu entziehen. Sie bemängelte die «religiöse Haltung der Institution, die Strafen und Sanktionen und die Professionalität des Personals und die Führung». Nach einer umfangreichen Stellungnahme, in der sich die DSS wehrt, sieht der Kanton von Massnahmen ab. Er würdigt dabei auch die Tatsache, «dass von der Schulleitung in einigen Fällen körperliche Übergriffe zugegeben worden seien». Trotzdem soll eine umfassende Überprüfung durchgeführt werden.
Die DSS reicht beim Kanton ein Bewilligungsgesuch ein, da dieser neu zuständig ist. Die Leitung von Kwasizabantu Schweiz geht von Hans Koller an Jürg Läderach. Die Schule stellt sich personell neu auf.
Der Kanton lädt die neue Führungsriege zu einer Aussprache. Diese betont, Körperstrafe sei «absolut keine Option».
Der Kanton führt eine Bestandesaufnahme durch und rügt verschiedene Punkte. Insbesondere fehlt eine unabhängige Internatsaufsicht.
Helga T., die Ex-Frau des Kwaszibantu-Chefs Hans Koller, wendet sich an die St.Galler Vormundschaftsbehörden. Sie hat den Ausstieg geschafft und sagt aus, in der Schule werde weiterhin «Gehirnwäsche» betrieben, Kinder bekämen als Strafe kein Essen und es «herrschten Zustände wie im Militär». Aufgrund ihrer Angst vor Repressalien fliessen die Aussagen nicht in ein das offizielle Protokoll ein.
Ein Kaltbrunner Gemeinderat, der mittlerweile die geforderte interne Aufsicht übernommen hat, verfasst einen äusserst positiven Bericht zum Schulalltag auf dem Hof Oberkirch. Er berichtet von «grossem Engagement und ausgezeichneter Arbeit».
Der Kanton erteilt der DSS die provisorische Bewilligung, auch wegen des wohlwollenden Berichts der internen Aufsicht, der eine «fast beispiellose Einrichtung» abbilde. Man habe die «Verdachtsmomente» nicht bestätigen können.
Die Schule erhält eine definitive Bewilligung.
Erneut schrecken Medienberichte die Öffentlichkeit auf. Weitere Betroffene melden sich bei den Behörden. SP-Kantonsrätin Daniela Colombo reicht eine Interpellation im Kantonsrat ein.
Der damalige Kantonsrat und heutige Regierungsrat Fredy Fässler (SP) kommt in einer Analyse zum Schluss, es lägen «keine ausreichenden, gesicherten und aktuellen Informationen vor, aufgrund derer die erteilte Bewilligung […] widerrufen werden könnte». Mit der internen Aufsicht geht er aber hart ins Gericht. Die Hinweise wonach die Schule «mit rigidem religiösem Druck geführt und zum Teil mit pädagogisch nicht vertretbaren Mitteln gearbeitet wird», seien glaubwürdig. In «offensichtlichem Kontrast» dazu stünden die Situationsberichte der internen Schulaufsicht. Diese machten einen «relativ distanzlosen» und nicht von «vornerein unabhängigen» Eindruck, so Fässler.
Die Gemeinde nennt sich neu Evangelische Gemeinde Hof Oberkirch und trennt sich von der Mission Kwasizabantu. Das betrifft auch die Schule, die neu Christliche Schule Linth heisst.
Die Gemeinde Hof Oberkirch publiziert einen unabhängigen Bericht zu ihrer Privatschule, den sie im Vorjahr in Auftrag gegeben hat. Die Untersuchung berichtet von Prügelstrafen, Psychoterror, Vergewaltigungen und schwerem Missbrauch in der Zeit zwischen 1995 und 2002. Doch auch danach kam es bis 2010 zu Missbrauch, besonders zu sexueller Belästigung.
Aufgrund der Erkenntnisse tritt die bisherige Leitung zurück, die «neue Generation» übernimmt die Führung. Sie will mit einem 9-Punkte-Plan einen Neuanfang wagen, unter anderem werden eine Ombudsstelle sowie therapeutische Unterstützung angeboten.
SRF berichtet in einem «Dok»-Film.
Der Kanton St.Gallen schafft eine Anlaufstelle für die Opfer der DSS. Eine erneute Aufarbeitung erachtet er als nicht nötig.
(aargauerzeitung.ch)
Separater Religionsunterricht ist ok, aber keine Schule nach Lehrplan mit religiöser Prägung.