Noch vor wenigen Jahren hatten die Verkehrsunternehmen wie die SBB freie Hand. Selbst bei einem Zugausfall oder einer massiven Verspätung waren sie nicht verpflichtet, den frustrierten Passagieren eine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten zu bezahlen. Es gab lediglich «Sorry-Bons», Gutscheine für Süssigkeiten oder Getränke für einige Franken. Diese verteilten SBB & Co. freiwillig.
Das hat sich mit den neuen nationalen Fahrgastrechten, die seit 2021 gelten, grundlegend geändert. Nur mit ein paar Bons kommen die ÖV-Unternehmen bei Verzögerungen im Inland nicht mehr davon. Wie in der Europäischen Union sind sie seither verpflichtet, bei Verspätungen von mehr als einer Stunde 25 Prozent des Fahrpreises zu erstatten, bei zwei Stunden Verspätung sind es 50 Prozent. Die berechnete Entschädigung muss mindestens 5 Franken betragen, damit sie ausbezahlt wird (siehe Box).
Nachdem die Passagiere ihre neuen Möglichkeiten zu Beginn nur zaghaft nutzten, haben die Entschädigungsforderungen mittlerweile angezogen. Wie die Branchenorganisation Alliance Swisspass auf Anfrage mitteilt, richtete sie letztes Jahr 20'689 Entschädigungen im Wert von 254'000 Franken aus. Das markiert einen Rekord seit der Einführung vor drei Jahren. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass durch die Covid-Pandemie massiv weniger Reisende unterwegs waren. Dementsprechend wurden 2022 nur 13'205 Anträge im Umfang von 172'000 Franken ausbezahlt.
Die Daten der Alliance Swisspass zeigen weiter, dass die Branche im Einführungsjahr 2021 jeden vierten Entschädigungsantrag ablehnte. In den letzten zwei Jahren war es noch jeder fünfte. «Gründe dafür waren zu geringe Verspätungen, ungültige Billette, Entschädigungsbeträge von unter fünf Franken oder überschrittene Einreichfristen», sagt eine Sprecherin. Die meisten Gesuchsteller waren letztes Jahr GA-Besitzer, danach folgten Käufer von Einzelbilletten und Tageskarten.
Nur die wenigsten ziehen nach einem negativen Entscheid ihre Forderungen weiter. Das zeigt ein Blick in die Statistik des Bundesamts für Verkehr (BAV). Sie amtet als Beschwerdestelle, wenn die ÖV-Unternehmen sich weigern, Geld auszuzahlen. Im letzten Jahr behandelte sie gerade mal elf Fälle. Meist ging es um Verspätungen auf internationalen Linien.
Die wenigen Beschwerdefälle lassen den Schluss zu, dass SBB & Co. relativ grosszügig Entschädigungen zahlen – und dass vielen Passagieren der Aufwand zu gross ist, beim Bund wegen ein paar Franken vorstellig zu werden. Beim BAV heisst es, bisher sei noch kein «Beschwerdeverfahren mit einer aufsichtsrechtlichen Verfügung abgeschlossen und so musste kein Transportunternehmen zu einer Entschädigung ‹gezwungen› werden».
Die Viertelmillion Franken, die letztes Jahr wegen Verspätungen und Zugausfällen gezahlt wurden, schmerzen den öffentlichen Verkehr kaum. Zum Vergleich: Allein die SBB erzielten 2023 einen Umsatz von 11,4 Milliarden Franken. Trotz angespannter Finanzlage nach der Covid-Krise fallen die Entschädigungen nur wenig ins Gewicht. Die geringen Aufwände hängen auch damit zusammen, dass die Pünktlichkeit hierzulande sehr hoch ist. Bei den SBB kamen letztes Jahr 92,5 Prozent der Züge rechtzeitig ans Ziel, das heisst mit einer maximalen Verzögerung von 3 Minuten.
Im Vergleich dazu kämpft die Deutsche Bahn mit ganz anderen Problemen. Im Fernverkehr lag die Pünktlichkeit zuletzt bei 64 Prozent. Dementsprechend hoch fielen die Entschädigungszahlungen aus, die für die Deutsche Bahn anfallen: Sie beliefen sich letztes Jahr auf rekordhohe 132 Millionen Franken. So verliert die Bahn 2,3 Prozent ihres Umsatzes, den sie im Fernverkehr erwirtschaftet.
In der Schweiz hat die Branche mit der aktuellen Höhe der Entschädigungen kalkuliert. Zu Beginn hatte sie gar mit mehr Forderungen gerechnet. Mittlerweile bewege man sich im erwarteten Bereich. Für dieses Jahr rechnen die Verkehrsbetriebe damit, wieder etwa eine Viertelmillion Franken auszuzahlen. (aargauerzeitung.ch)