Es ist ein Thema, das die Bildungspolitik immer wieder beschäftigt: Schule ohne Noten. Wäre es nicht besser, die Schülerinnen vom Leistungsdruck zu befreien und sie spielerisch fürs Lernen zu motivieren? Passt leistungsorientiertes Lernen noch zur heutigen Gesellschaft, oder handelt es sich dabei um ein überholtes Konzept?
Längst gibt es Beispiele von privaten Schulen, die ohne Noten oder Zeugnisse funktionieren. Zu den bekanntesten gehören die Montessori- oder die Rudolf-Steiner-Schulen. Lernfortschritte werden nicht mit Zahlen gemessen, sondern in Gesprächen diskutiert und Wortzeugnissen dokumentiert. Auch einige Volksschulen experimentieren mit neuen Formen der Bewertung. In der Sekundarschule Seehalde legen Schüler ihre persönliche Notenziele selber fest. In eigenem Lerntempo und mit so viel Unterstützung durch die Lehrpersonen, wie sie brauchen, versuchen sie diese zu erreichen. Das Modell nennt sich SOL und stellt das selbstorganisierte Lernen ins Zentrum.
Philippe Wampfler wünscht sich mehr solche Projekte. Der Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge und Dozent für Fachdidaktik an der Universität Zürich ist ein engagierter Verfechter eines Unterrichts ohne Noten. Für ihn ist es «der Schlüssel, um die Schulen nachhaltig zu verbessern». Derzeit schreibt er an einem Buch zum Thema, das im Herbst erscheint.
Gerade das letzte Jahr habe gezeigt, dass man gut auf Noten und Zeugnisse verzichten könnte, sagt Wampfler. Weil im Coronajahr der Unterricht zu weiten Teilen als Home-Schooling stattfand, verzichteten viele Schulen auf einen Leistungsnachweis. Da er oft in Deutschland unterwegs sei, habe er beobachten können, wie hoch dort der Druck auf die Schülerinnen war im Unterschied zur Schweiz: «Als wieder Präsenzunterricht stattfand, wurden gleich mal die Prüfungen nachgeholt.» Er findet es bedauerlich, dass Prüfungen den Kern des Systems darstellen, die Zahl, anhand der eine Leistung deklariert werde.
Aus der Wissenschaft wisse man, dass Noten den Lernprozess negativ beeinflussen. «Noten bewirken, dass Kinder und Jugendliche das Interesse am Thema verlieren, sich einfachere Aufgaben aussuchen und in ihren Lernaktivitäten oberflächlich werden», sagt Wampfler. Dabei sei Lernen eigentlich etwas Menschliches und Einfaches. «Lernen hat eine integrierte Belohnungsfunktion. Weil ich danach etwas besser kann oder weil ich mein Verhalten ändern kann, bin ich motiviert, dazuzulernen.» Doch in der Schule sei Lernen mit Stress, Angst und Druck verbunden. Die Kinder würden Lernen, weil sie lernen müssen, um gute Noten zu bekommen. Deswegen brauche es ein «Ungrading», eine «Entnotung» des schulischen Lernens, findet Wampfler.
Das Thema Noten und Beurteilung treibt die Lehrerschaft immer um, sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Dabei geht es nicht nur darum, ob Noten sinnvoll sind oder nicht, sondern auch, wie Noten gemacht werden. «Beispielsweise ist es meist pädagogisch wenig sinnvoll, für die Zeugnisnote einfach den Durchschnitt der Prüfungsnoten zu nehmen», sagt Rösler. Auch andere Beurteilungsformen müssten in den Leistungsausweis einfliessen können. «Doch die Diskussionen darüber verlaufen immer sehr kontrovers und einig wird man sich nie.» Zuletzt gehe es aber weniger um die pädagogisch sinnvollste Methode, sondern um Politik. «Die Entscheidung, ab welcher Stufe Noten geschrieben werden müssen, fällen in der Regel die kantonalen Parlamente oder Regierungen.»
Das führt zu grossen Unterschieden an den Schweizer Primarschulen. In den Kantonen Aargau, Appenzell Innerrhoden, Freiburg, St.Gallen, Schwyz, Wallis, Zug und Zürich erhalten Kinder bereits ab der zweiten Klasse Zeugnisnoten. In anderen Kantonen ab der dritten oder vierten Klasse, im Kanton Neuenburg gar erst in der sechsten Klasse. Am frühesten bewertet werden die Schulkinder in den Kantonen Glarus uns Solothurn. Dort werden schon an Erstklässler Zeugnisse mit Noten verteilt.
Doch im Kanton Solothurn hat man damit in den vergangenen Jahren nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Darum ist man dort daran, die Noten in den ersten zwei Klassen auf kommendes Jahr abzuschaffen. Mathias Stricker präsidiert den Solothurner Lehrerverband und ist an dieser Umgestaltung massgeblich beteiligt. «Der Wechsel ist eine zehnjährige Geschichte», sagt er. 2010 wurden die Noten nach einem Vorstoss der SVP in der Unterstufe eingeführt. Der Entscheid fiel gegen den Willen der Lehrerschaft. «Wir hatten ein bewährtes System mit Lernzielen und kamen in der Unterstufe gut ohne Noten aus.
«Dass der Vorstoss im Kantonsrat Zustimmung fand, überraschte und enttäuschte uns», sagt Stricker. Auch viele seien ab der Änderung nicht glücklich gewesen. Und so habe man sich daran gemacht, den Entscheid rückgängig zu machen. Stricker ist froh, dass das Ziel nun in greifbare Nähe gerückt ist. Er könnte sich auch vorstellen, in höheren Stufen auf Noten zu verzichten. «Weil ich glaube, dass man ohne Noten sorgfältiger und förderorientierter beurteilen kann.» Doch eine Schule ohne Noten sei ein Wunsch, der in weiter Ferne liege. Und auf viel Widerstand stosse.
«Mit Noten sind grosse Ungerechtigkeiten verbunden», sagt Katharina Maag Merki, Professorin für Pädagogik an der Universität Zürich. Ein Problem sei die Vergleichbarkeit der Bewertungen über eine Klasse, eine Schule oder einen Kanton hinweg. «Ich kann das an einem Beispiel erläutern: An der Schule A erhält eine Schülerin im Zeugnis eine Note 4 im Fach Mathematik, in einer anderen Schule B erhält ein Schüler eine Note 5 im gleichen Fach, obwohl beide die gleichen Leistungen erbringen. Die Schülerin hat damit schlechtere Chancen als der Schüler von der Schule B mit dem 5er-Schnitt. Obwohl dieser gar nicht mehr kann, vielmehr ist in seiner Klasse der Bewertungsmassstab tiefer angesetzt»
Deswegen die Noten abzuschaffen ist in Maags Augen eine chancenlose Forderung. «Das Schweizer Schulsystem basiert auf Selektion. Und solange selektioniert wird, braucht es Noten. Sie sind die Währung dieses Systems.» Allerdings haben Beurteilungen noch eine andere Funktion. Sie geben den Schülerinnen und Schülern Hinweise, was sie gut können und wo sie noch dazulernen müssen. Wichtig seien dabei aber differenzierte Rückmeldungen, die den Lernenden sagen, was sie verbessern können. «Wenn Kinder nur mit einer Zahl bewertet werden, ohne ihnen zu sagen, was sie gut gemacht haben und wo Fehler bestehen, funktioniert der Lernprozess nicht», sagt sie. Noten dürften nicht nur als Mittel zur Selektion gesehen werden, sondern auch, um die Schüler im Lernfortschritt zu unterstützen.
Maag ist überzeugt, dass schon viel bewirkt werden könnte, wenn die Selektion später passierte. «Jetzt wird nach der 6. Klasse entschieden, welchen Weg die Kinder einschlagen. In anderen Ländern passiert dieser Übergang später.» Der Fokus auf die Selektion sei in der Schweiz sehr stark und der Entscheid, der mit 12 Jahren gefällt wird, habe grosse Auswirkungen für den weiteren Lebensweg. Das hätten viele Studien gezeigt. «Wenn wir den Wechsel von der Primar- auf die Sekundarstufe nur schon zwei oder drei Jahre nach hinten verlegen würden, nähme dadurch die Chancengleichheit zu», so Maag.
Es steht und fällt mit der Lehrperson: Ohne Noten haben wir im besten Fall eine ganzheitliche, alle Kinder optimal fördernde Schule. Im schlechtesten Fall aber reine Sympathie/Antipathie-Noten.
Auch wenn meine persönlichen Erfahrungen mit Lehrpersonen fast durchwegs positiv waren - es gibt auch andere. Für diese braucht es eine Lösung - ohne Helikopter-Eltern-Prozess-Lawine.
Habe selbst miterlebt, wie ein Schüler, durch Drängen der Eltern im A gelandet ist, dabei waren seine Noten eher B. Geendet ist er im C, weil er durch die Herabstufung Anschluss und Selbstbewusstsein verloren hat.
Für Lehrbetriebe ist ein Vergleich auch wichtig, da man nur bis zu einem gewissen Grad Bildungslücken und Defizite ausgleichen kann. Bei 200+ Bewerbungen alles Textbasiert sortieren? Unmöglich.