Schweiz
Schweiz-EU

«Es gibt für die Schweiz keine Rosinenpickerei»

Sebastian Kurz ist mit seinen 27 Jahren schon manchen Aussenministern begegnet.
Sebastian Kurz ist mit seinen 27 Jahren schon manchen Aussenministern begegnet.Bild: ABIR SULTAN/EPA/KEYSTONE
Interview mit Österreichs Aussenminister

«Es gibt für die Schweiz keine Rosinenpickerei»

Österreich hat den jüngsten Aussenminister der Welt – er lobt und kritisiert die Schweiz für ihre direkte Demokratie. Sebastian Kurz hofft, dass die Schweiz und die EU eine Lösung für die Masseneinwanderungs-Initiative finden.
21.07.2014, 08:4721.07.2014, 14:39
Christian Dorer, Wien / Aargauer Zeitung
Mehr «Schweiz»
Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Die Zweifel, ob der 27-jährige Sebastian Kurz dem Amt des Aussenministers gewachsen sei, hat er rasch zerstreut – mit «Charme, Höflichkeit und taktischer Intelligenz», wie die «Süddeutsche Zeitung» schrieb. Kurz hat der österreichischen Aussenpolitik Gewicht zurückgegeben, zum Beispiel indem er die Atomgespräche zwischen den USA und dem Iran nach Wien holte. Deshalb weilte US-Aussenminister John F. Kerry letzte Woche in Wien. Das Treffen zwischen Kerry und Kurz soll gleich nach dem Interview mit der «Nordwestschweiz» stattfinden. Nervosität ist Kurz trotzdem nicht anzumerken, im Gegenteil. Mit einem fröhlichen «Grüss Gott, Herr Chefredakteur» holt er den Besucher aus der Schweiz persönlich im Empfangsraum ab, führt ihn in sein Büro und serviert Wasser. 

Herr Minister, wichtige Akteure der Weltpolitik sind für die Atomgespräche hier vor Ort – und Sie, noch kein Jahr im Amt, mittendrin. Mögen Sie turbulente Einstiege?
Sebastian Kurz: Wir hatten in der Tat einen intensiven Start im Aussenministerium. Als ich erst wenige Tage im Amt war, wurde in Dubai ein österreichisches Mädchen vergewaltigt und eingesperrt. Einige Wochen später brach die Krise in der Ukraine aus. Sie sehen: Ich warte immer noch auf die ruhige Einarbeitungsphase.

Wie haben Sie das angestellt, dass die Atomgespräche in Wien und nicht in Genf stattfinden?
Die ersten Verhandlungen fanden ja in Genf statt. Wir haben der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton angeboten, eine Runde der Verhandlungen in Wien durchzuführen. Gerade als neutrales Land sind wir prädestiniert, Boden für Verhandlungen und Gespräche zur Verfügung zu stellen.

Die österreichische Aussenpolitik glänzte jahrelang durch Abwesenheit. Das hat sich schlagartig geändert, seit Sie als 27-jähriger Aussenminister in ganz Europa als Sensation gelten. Können Sie Ihr Alter gewinnbringend einsetzen?
Wir hatten immer eine aktive Aussenpolitik. Aber es stimmt, dass die derzeitige Aufmerksamkeit für die österreichische Aussenpolitik auch mit meinem jungen Alter zu tun hat. Wir stehen damit vielleicht etwas mehr im Fokus. Damit kann ich gut leben.

Zur Person

Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater Ingenieur, Sebastian Kurz kommt am 27. August 1986 in Wien zur Welt. Mit 16 steigt er bei der Jungen ÖVP in die Politik ein. 2011 wird er Staatssekretär für Integration und damit jüngstes Regierungsmitglied in der Geschichte Österreichs. Seit Dezember 2013 ist er Aussenminister. Gemäss Umfragen ist Kurz der beliebteste Politiker Österreichs und damit der Hoffnungsträger der bürgerlich-konservativen ÖVP. Sein Jus-Studium hat er unterbrochen.
Hier mit US-Aussenminister John Kerry.
Hier mit US-Aussenminister John Kerry.Bild: EPA/APA

Wie ist das bei Treffen mit anderen Aussenministern, mit Laurent Fabius aus Frankreich, Frank-Walter Steinmeier aus Deutschland, Sergej Lawrow aus Russland: Ist Ihr Alter da ein Thema?
Bei meinen europäischen Kollegen ist es kein Thema. Aussenminister sind geübt im Umgang mit verschiedenen Religionen, Hautfarben und Herkünften. Wir haben alle paar Wochen Sitzung in Brüssel, ich bin seit einem halben Jahr im Amt, der Kontakt ist sehr gut – und da spielt das Alter rasch keine Rolle mehr.

Sie stehen stärker unter Beobachtung als alle anderen Minister. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Ich wurde mit 24 Jahren Staatssekretär für Integration. Da war ich stärkerem Druck ausgesetzt. Die Medien fuhren Kampagnen gegen mich, die Meinung in der Bevölkerung war negativ. Ein guter Freund sagte mir damals, ich solle die Zeitungen nicht allzu ernst nehmen und tun, was ich für richtig halte. Nach ein paar Monaten erhielt ich plötzlich viel Zuspruch, auch in den Medien. Mein Freund rief mich erneut an und gab mir wiederum den gleichen Rat. Lob und Tadel – beides sollte man nicht allzu ernst nehmen.

Hier mit dem russischen Aussenminister Sergej Lawrow.
Hier mit dem russischen Aussenminister Sergej Lawrow.Bild: EPA/APA

Haben Sie sich selber auch mal gefragt: Aussenminister – kann ich das überhaupt? 
Natürlich. Die Aufgabe ist eine tägliche Herausforderung. Und ich weiss sehr genau, was ich mitbringe und was nicht. In meinen drei Jahren als Staatssekretär für Integration im Innenministerium habe ich sehr viel gelernt – über die politische Arbeit, aber auch über den Umgang mit anderen Kulturen, da ich viel mit den Herkunftsländern der Migranten zu tun hatte. Natürlich lerne ich auch heute noch täglich dazu. Das ist aber bei allen so, unabhängig vom Alter.

Mit 27 haut man normalerweise gern mal auf den Putz. Wie stark müssen Sie sich einschränken?
Ich habe es auch gern mal lustig. Aber auch das ist keine Frage des Alters. Ich kenne viele Ältere, die es auch gern lustig haben – und das Gott sei Dank auch können. Ich nehme mir die Freiheiten, die ich brauche. Meine Arbeit ist fordernd, aber das gehört zum Job.

Gruppenbild mit palästinensischen Schülerinnen im Westjordanland im April 2014.
Gruppenbild mit palästinensischen Schülerinnen im Westjordanland im April 2014.Bild: EPA/APA

Sie sind nun viel auf Reisen. Warum führte Sie Ihre erste Auslandreise nach Kroatien – und nicht in die Schweiz? 
Ich wollte damit bewusst ein Zeichen Richtung Westbalkan und Europäischer Union setzen. Kroatien ist das jüngste EU-Land. Mit meiner Reise wollte ich den übrigen Ländern im Westbalkan zeigen: Sie müssen eine europäische Perspektive haben. Den Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter lernte ich jedoch bereits nach einigen Wochen im Amt kennen: Die Schweiz hatte den OSZE-, Österreich den Europarat-Vorsitz. Ich schätze Burkhalter sehr, er ist ein beeindruckender Aussenminister.

Wegen seiner Rolle als Vorsitzender der OSZE im Ukraine-Konflikt? Wie wichtig ist dieses Amt überhaupt? 
Didier Burkhalter übt es mit viel Engagement aus, deshalb ist es auch sehr entscheidend geworden. Gerade in der Ukraine-Krise hat die OSZE den Lead in den Friedensverhandlungen, dadurch ist Burkhalter in einer zentralen Rolle. Die europäischen Länder haben lange darauf hingearbeitet, dass es zu diesen Verhandlungen kommt. Und diese finden nun unter der Schirmherrschaft der OSZE statt. Das ist gut so.

Ist nicht vieles Farce und am Ende zählen einzig die grossen Staaten?
Das sehe ich nicht so. Natürlich haben die grossen Staaten ein grosses Gewicht. Gerade bei Krisen werden internationale Organisationen wie Europarat und OSZE wichtig.

Wann planen Sie, die Schweiz zu besuchen? 
Sobald wie möglich. Hoffentlich in den nächsten Monaten.

Was verbindet Sie mit der Schweiz? 
Ich war privat schon öfters dort. Als Österreicher blickt man mit grossem Interesse auf die Schweiz, weil wir viel von der Schweiz lernen können. Als Landesobmann der Jungen ÖVP habe ich mich stark für mehr direkte Demokratie eingesetzt. Die Schweiz war für uns ein gutes Beispiel.

Gerade unsere direkte Demokratie ist doch vielen Ministern aus EU-Ländern suspekt, weil das Volk das letzte Wort hat und damit jeden Politikerentscheid umstossen kann. 
Ich sehe das anders. In unseren Demokratien in Europa und speziell in Österreich setzen wir uns viel zu oft mit Koalitionsverhandlungen und Umfragen auseinander. Oder wir fragen uns, wer die nächsten Wahlen gewinnen wird. Für Inhalte bleibt oft wenig Zeit. Die Bevölkerung soll sich aber auch mit Inhalten auseinandersetzen, sie soll sich eine Meinung bilden. Die direkte Demokratie führt zwangsläufig zu inhaltlichen Diskussionen. Das Schweizer Modell ist für Österreich zwar nicht eins zu eins kopierbar, aber wir können davon lernen.

Wie viel direkte Demokratie würden Sie Ihren Bürgern zugestehen? 
Die Idee der Volksabstimmungen könnte man kopieren bei Anliegen, die in der Bevölkerung grosse Zustimmung erhalten, bei Regierung und Parlament aber auf taube Ohren stossen. Bei solchen Volksbegehren sollten Abstimmungen möglich sein. Alles andere führt in der Bevölkerung zu Recht zu Missmut: wenn sie also ein Volksbegehren unterschreiben darf, dieses aber dann schubladisiert wird und ihre Stimme kein Gewicht erhält.

Sollte das Volk in der ganzen EU mehr direkte Mitsprache erhalten? 
In Österreich hoffe ich, dass wir das durchsetzen können. In der EU brauchen wir in erster Linie mehr Bezug zwischen Politikern und Bevölkerung. Heute wissen viele Menschen nicht, welche Kommissionsvertreter wir in Brüssel haben, sie kennen auch den Kommissionspräsidenten nicht. Deshalb würde ich eine Direktwahl des Präsidenten begrüssen. Das würde dazu führen, dass Bevölkerung und Europäische Kommission näher zusammenrücken. Das würde uns gut tun.

Wie stark schwächen die nationalistischen Tendenzen der jüngeren Zeit die EU? 
Ich sehe da keine Gefahr. Ein grosses und wertvolles Projekt wie die EU muss sich stetig weiterentwickeln und Strömungen in der Bevölkerung ernst nehmen. Die nationalstaatlichen Tendenzen sollten dazu anregen, besser zu informieren. Wir sollten uns auch die Frage stellen, wo wir die EU entbürokratisieren und Souveränität den Staaten zurückgeben könnten.

Grossbritannien will sogar über den Verbleib in der EU abstimmen. 
Das ist bei uns kein Thema. Und ich hoffe, dass Grossbritannien sich auf die Vorteile der EU besinnt. Ein Austritt wäre ein grosser Schaden – sowohl für Grossbritannien als auch für die EU.

Die ältere Generation sieht die EU als Friedensorganisation. Bei den jüngeren Menschen schwindet diese Erinnerung. 
Für uns junge Menschen ist Frieden eine Selbstverständlichkeit, die Erwartungshaltung viel höher. Das ist legitim. Die EU ist mittlerweile auch sehr viel mehr als ein Friedensprojekt.

Die Schweiz hat mit der EU ein gewichtiges Problem zu lösen: wie weiter nach dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative? Wo sehen Sie eine Lösung? 
Das müssen die Schweiz und die EU aushandeln. Wir jedenfalls haben ein grosses Interesse an einer Lösung: Viele Österreicher leben oder arbeiten in der Schweiz. Ich verstehe die skeptischen Stimmen in der Schweiz, was die Zuwanderung betrifft. Die gibt es auch in Österreich. Viele sind der Meinung, dass wir einen hohen Anteil an Ausländern haben. Dennoch glaube ich, dass es keine kluge Entscheidung der Schweizer war. Denn sie profitieren sehr stark von der Zusammenarbeit mit der EU – dem freien Kapitalverkehr, den wissenschaftlichen Projekten und so weiter.

Diese Bereiche sind unbestritten. Doch ist es nicht legitim, dass ein Land selber über die Zuwanderung bestimmen will? 
Natürlich. Aber genauso legitim ist es für die EU zu sagen, dass es keine Rosinenpickerei gibt. Man kann sich nicht die Vorteile ausbedingen und andere Punkte ablehnen. Ich habe für beide Seiten Verständnis.

Hat der bilaterale Weg der Schweiz langfristig Zukunft? 
Das muss die Schweiz entscheiden. Wir jedenfalls sind froh, dass wir Mitglied der EU sind. Für Österreich war das der richtige Weg. Unabhängig davon, ob die Schweiz Mitglied der EU ist oder nicht: Wir arbeiten gern mit ihr als Partnerin zusammen.

Die Schweiz und Österreich haben viele Gemeinsamkeiten. In der Schweiz jedoch wäre ein EU-Beitritt niemals mehrheitsfähig. Sind diese Ängste unbegründet? 
Mir steht es nicht zu, das zu beurteilen. Ich kenne jedoch die Situation von Österreich: Wir haben wirtschaftlich stark von der Mitgliedschaft profitiert. Und ich bin überzeugt: Europa muss im internationalen Wettbewerb mit anderen Grossmächten enger zusammenrücken.

Eine Gemeinsamkeit der beiden Länder ist die Neutralität. Ist sie heute nicht vor allem ein Mythos?
Die Neutralität gehört zur österreichischen Identität. Sie hat aber auch ganz praktische Auswirkungen: Wir sehen es als unsere Verpflichtung an, Boden für neutrale Verhandlungen und Gespräche zu sein – wie zum Beispiel aktuell für die Atomgespräche. Da hilft die Neutralität.

Sie definieren den Balkan als Kernregion. Sehen Sie Österreich als Vermittlerin zwischen Ost und West? 
Wir haben eine starke historische, wirtschaftliche und mittlerweile auch menschliche Verbundenheit mit dem Balkan. Unsere grösste Zuwanderungsgruppe nach Deutschland kommt von dort. Daher kennen wir diese Region sehr genau. Wir wollen für die Länder Partner auf dem Weg in die EU sein.

Österreich hat zusammen mit der Schweiz sehr früh Sanktionen gegen die Regierung des früheren ukrainischen Präsidenten Janukowitsch verhängt.
Das war eine mutige Entscheidung, da sind die Schweiz und Österreich vorangegangen. Wir haben die Konten all jener Personen sperren lassen, die mutmasslich Geld durch Korruption beiseitegeschafft haben. So haben wir versucht, Schaden von der Ukraine abzuwenden.

Wie könnte eine Lösung für die Ukraine aussehen?
Wir sollten Länder wie die Ukraine, aber auch Georgien, Armenien und Moldawien nicht zu einer Entscheidung zwischen der EU oder Russland drängen. Besser wäre eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit. So sollen diese Länder die Möglichkeit erhalten, sowohl näher an die EU zu rücken als auch eine Partnerschaft mit Russland einzugehen.

Welche Auswirkungen hat der Flugzeugabschuss auf den Konflikt? (Das Interview fand vor dem Unglück statt, Kunz beantwortete diese Frage nachträglich.) 
Zunächst will ich sagen, unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. Was es braucht, ist eine rasche vollständige Aufklärung dieses tragischen Vorfalls. Erst wenn wir wissen, was konkret passiert ist, können wir die Konsequenzen beurteilen und auch ziehen. Aber klar ist: Wenn es kein Unfall, sondern tatsächlich ein Abschuss war, worauf momentan alle Indizien hindeuten, dann müssen die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden.

(Nordwestschweiz)

Jetzt auf
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
13 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
13
    Fust-Gründer Walter Fust ist verstorben

    Der Unternehmer und Investor Walter Fust ist am Dienstag nach kurzer Krankheit verstorben. Dies teilte seine Familie am Donnerstag mit. Fust wurde 83 Jahre alt.

    Zur Story